Matthias Klingenberg - Ein kleines Leben

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Schon als kleiner Junge hatte der Autor wissen wollen, welche Rolle sein Großvater Karl als Angehöriger der Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg gespielt hat. Faszination und Grauen erfüllen ihn, als er sich in den 1980er-Jahren die eine oder andere Epi­sode von ihm erzählen lässt. Dann, als Anfang 40-Jähriger, siebzig Jahre nach Kriegsende, macht er sich selbst auf die Suche, mehr über ihn und die Auswirkungen seines Schicksals zu erfahren: Mit der Instamatic-Kamera des verstorbenen Karl, für die nur noch längst abgelaufene Filme existieren, und alten Fotos reist er an die Orte, an denen dieser sich einst als Soldat aufgehalten hat. Über seinen Opa findet der Autor nur wenig Neues heraus, stattdessen aber umso mehr über sich selbst, seine Familie und die transgenerationale Verarbeitung von Erinnerungen. Plätze, Menschen, Begegnungen und histo­rische Relikte sprechen für sich und ganze Nachkriegsgenerationen, ob Ukraine, Frankreich, Polen, Tschechien, West- oder Ost­deutschland. Obwohl der Suchende oft im Konflikt ist, ob seine Recherchen Sinn machen, kommt er am Ende zu dem Schluss, dass das Fragen nach der Vergangenheit, Antworten für die Jetztzeit bereithält und über die eigene Identität Aufschluss gibt.

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Matthias Klingenberg

Ein kleines Leben

Eine Spurensuche

Impressum

Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN: 978-3-86408-233-7 (Print) // 978-3-86408-234-4 (E-Book)

© 2017 Vergangenheitsverlag, Berlin

www.vergangenheitsverlag.de

Lektorat: Bettina Moll (www.texttiger.de)

Covergestaltung: Frank Petrasch

Coverabbildung: Wolfgang Klingenberg

Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.

Inhaltsverzeichnis

Instamatic

Prolog oder „Jever Licht“

Transgenerationales Schweigen

#Reminder

Das Arbeitszimmer meines Großvaters

Kriegsbericht – Teil 1

Stadt der Helden

#das dorf

Gadenstedt/Bargfeld

Gruppenbild in Schwarz-Weiß

Beschriftungen

Ich schaue mir Kisten an

#Karl im Traum

Joppen

Luckenwalde

Der Bolzberg

9. Mai 2015

Kanisterbombe

Königsbrück

Manöver SPEARPOINT

Früher ratterten die Schienen beim Drüberfahren

Feste

8 Neonröhren x 25 Watt

Kriegsbericht – Teil 2

Brüx

Westfront

#Der letzte Urlaub 1990 in Hahnenklee

Erinnerungen verbrennen

Epilog

Instamatic

Im Nu geladen!

KODAK

CAMERA

INSTAMATIC 100

An Ihrer neuen KODAK Camera werden Sie Ihre helle Freude haben, denn mit der INSTAMATIC 100 photographieren Sie drin­nen so leicht wie draussen, farbig so gut wie schwarzweiss. Vom Film­einlegen bis zum Auslösen geht alles so spielend einfach, daß Sie nur überrascht sein werden.

Sie brauchen nur folgendes zu tun …

– Camera öffnen – KODAPAK Kassette einlegen – Camera-Rücken­­deckel schliessen.

– Filmtransporthebel durchschalten – fertig zur ersten Aufnahme.

– Motiv durch den hellen, klaren Sucher anvisieren und …

– Auslösen.

Verwenden Sie KODAK-Filme Nr. 126 in der KODAPAK Kas­sette (für blitzschnelles Laden und Entladen). Sie können Schwarz­weiss­bilder, Farbbilder und Farbdias machen, je nachdem welchen Film Sie verwenden.1

Im Nachlass meines Großvaters fanden sich zwei Kameras. Eine Kodak Instamatic 100 und eine Zeiss Ikon Nettar 515/2. Als ich mich auf den Weg machte, mehr über das Leben meines Großvaters zu erfahren, beschloss ich, die Orte, die ich besuchen würde, mit seiner Originalkamera zu dokumentieren. Eigentlich hätte ich mich aus einer Vielzahl von Gründen für die Zeiss Ikon entscheiden müssen: Dieser Apparat hatte Karl an die Fronten des Krieges begleitet. Seine mit dieser Kamera gemachten Aufnahmen würden eine wichtige Rolle bei meinen Recherchen und in diesem Buch spielen. Die Zeiss Ikon ist außerdem die eindeutig bessere Kamera, die Instamatic eher ein Spielzeug, gekauft irgendwann in den 1960er-Jahren. Trotzdem beließ ich die Rollfilmkamera, wo ich sie gefunden hatte. Aus zwei einfachen Gründen: Erstens bin ich ein mise­rabler Fotograf – die Zeiss hätte mich überfordert – und zwei­tens habe ich meinen Großvater nie mit der Zeiss-Kamera fotografieren sehen. An die Instamatic in seinen Händen kann ich mich aber gut erinnern.

Leider wurde die Produktion der für die Instamatic not­wen­digen Kassettenfilme 2007 eingestellt, sodass ich gezwun­gen war, schon abgelaufene Filme im Internet zu ersteigern, aber irgendwie passt das ja zum Projekt, dachte ich mir.

1Aus einem Werbetext der Firma Kodak für die Instamatic-Kamera (1960er-Jahre).

Prolog oder „Jever Licht“

„Man besucht sich ja nur selber, wenn man zu den Toten geht.“

(Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm )

Mein Opa, Karl Krüger, starb am 17. Mai 1993. Kurz zuvor, es mag am Freitag, den 7. Mai, gewesen sein, bekam ich mein Abiturzeugnis ausgehändigt. Meine Eltern waren damals zur Kur irgendwo im Süden der Republik und wir nutzten, recht schamlos, die Abwesenheit der Erziehungsberechtigten aus, um in ihrem Haus Party zu machen.

Meine Großeltern lebten auf dem gleichen Grundstück wie wir. Sie bewohnten das alte Fach­werkvorderhaus, wohingegen wir im Neubau zum großen Garten hinaus residierten. Ich erinnere mich noch genau an die mal wohlwollenden, mal skeptischen Blicke und Kommentare meines Opas – ja, auch der Oma – bezüglich des sich vor ihren Augen abspielenden tagelangen Abitur-Party-Rausches. Meine Oma – Toni war ihr Name, stand auch so in ihrem Pass – kam dann mit grimmigem und leidendem Blick die kurze Treppe hinauf, die vom Alt- zum Neubau führt, und versuchte, uns die ausgelassene Stimmung zu vermiesen, indem sie sich über die Lautstärke beschwerte und nachfragte, ob denn die Freun­dinnen und Freunde, die da auf dem elterlichen Teppich und Sofa herumlungerten, nicht auch einmal nach Hause müssten. Es war mir peinlich, wenn sie das tat, mich vor meinen Freun­den zurechtwies.

Dies war auch das Wochenende, an dem ich mit meinem Mitschüler Jörg versuchte, so viele Hannen-Alt-Flaschen leer­zu­trinken und auf den Terrassenboden zu platzieren, bis dieser komplett mit Flaschen gefüllt wäre. Mein Opa ging, während wir uns oben der x-ten Altbierflasche widmeten, unten an der Terrasse vorbei in den Garten, schaute kurz herauf und meinte, ob es nicht Zeit wäre, ein paar leere Flaschen in den Alt­glas­­container zu bringen. Unser Anliegen blieb ihm unver­ständlich.

Zu erwähnen sind wohl auch die ausgedehnten, sich auf dem Wohnzimmerteppich abspielenden, nicht so recht erfolg­reichen Annäherungsversuche an Nicole, einer Frau, die nach­haltig mei­n­en Geschmack, vor allem in Bezug auf Musik, Kleidung und Kunst sowie natürlich in Bezug auf Frauen geprägt hat. Ich verehrte Nicole, die auch in meinem Abitur­jahrgang war, schon seit Jahren. „Verehrte“ ist zu schwach, ich himmelte sie an. Sie verkörperte, was ich mir unter dunkel, alternativ und unangepasst vorstellte. Sie trug immer schwarz, hatte seltsam andere Freunde und hörte Musik, die sonst nie­mand, den ich kannte, mochte, geschweige denn kannte. An einem dieser Abende, irgendwann zwischen der Zeugnis­ausgabe und dem Tod meines Großvaters, brachte sie einige ihrer Schallplatten mit, wir öffneten einen schweren roten Franzosen aus dem Keller meines Vaters, rauch­ten, lagen auf dem Wohnzimmerteppich und degustierten Nicoles Tonträger: Es war die 1989 erschiene LP Haus der Lüge von den Einstür­zenden Neubauten, die mich völlig aus dem Konzept brachte. Ich erinnere mich an eine stundenlange Diskus­sion mit Nicole über eine Zeile aus dem Mund des Sängers der Neubauten: „Gott hat sich erschossen, ein Dachgeschoss wird ausgebaut“. An dieser Stelle sollte vielleicht gesagt werden, dass weder Nicole noch ich aus einer aufgeklärten, urbanen Bildungs­bürger­familie kamen, sondern dass sich all dies in einem klei­nen Dorf in Niedersachsen abspielte.

‚Gott ist tot‘ und die Unverblümtheit, mit der diese These aus den Blaupunkt-Lautsprechern meiner Eltern hallte, war für uns noch verstörend. Hinzu kam, dass es genau diese Platte war – auf ihrem Cover ist ein pinkelndes stilisiertes Pferd abge­bildet –, vor der mich unser Gemeindepastor gewarnt hatte: Denn als sich im Jahr zuvor, ausgerechnet am Neujahrsmorgen 1992, unser Mitschüler S. das Leben nahm, machten dessen Eltern und Pastor den schlechten Einfluss eben dieser Lang­spielplatte hierfür verantwortlich. S. hatte außerdem ein Tour-Poster mit der Coverabbildung in seinem Zimmer aufgehängt und liebte die Neubauten, so berichtete es mir immerhin der Dorfpfarrer. Mich hat Haus der Lüge bisher nicht in den Selbst­mord getrieben, eher dazu, mir nach und nach alle Veröf­fentlichungen der Einstürzenden Neubauten zu kaufen.

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