Matthias Klingenberg
Ein kleines Leben
Eine Spurensuche
Impressum
Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN: 978-3-86408-233-7 (Print) // 978-3-86408-234-4 (E-Book)
© 2017 Vergangenheitsverlag, Berlin
www.vergangenheitsverlag.de
Lektorat: Bettina Moll (www.texttiger.de)
Covergestaltung: Frank Petrasch
Coverabbildung: Wolfgang Klingenberg
Alle Rechte, auch die des Nachdrucks von Auszügen, der fotomechanischen und digitalen Wiedergabe und der Übersetzung, vorbehalten.
Instamatic
Prolog oder „Jever Licht“
Transgenerationales Schweigen
#Reminder
Das Arbeitszimmer meines Großvaters
Kriegsbericht – Teil 1
Stadt der Helden
#das dorf
Gadenstedt/Bargfeld
Gruppenbild in Schwarz-Weiß
Beschriftungen
Ich schaue mir Kisten an
#Karl im Traum
Joppen
Luckenwalde
Der Bolzberg
9. Mai 2015
Kanisterbombe
Königsbrück
Manöver SPEARPOINT
Früher ratterten die Schienen beim Drüberfahren
Feste
8 Neonröhren x 25 Watt
Kriegsbericht – Teil 2
Brüx
Westfront
#Der letzte Urlaub 1990 in Hahnenklee
Erinnerungen verbrennen
Epilog
Im Nu geladen!
KODAK
CAMERA
INSTAMATIC 100
An Ihrer neuen KODAK Camera werden Sie Ihre helle Freude haben, denn mit der INSTAMATIC 100 photographieren Sie drinnen so leicht wie draussen, farbig so gut wie schwarzweiss. Vom Filmeinlegen bis zum Auslösen geht alles so spielend einfach, daß Sie nur überrascht sein werden.
Sie brauchen nur folgendes zu tun …
– Camera öffnen – KODAPAK Kassette einlegen – Camera-Rückendeckel schliessen.
– Filmtransporthebel durchschalten – fertig zur ersten Aufnahme.
– Motiv durch den hellen, klaren Sucher anvisieren und …
– Auslösen.
Verwenden Sie KODAK-Filme Nr. 126 in der KODAPAK Kassette (für blitzschnelles Laden und Entladen). Sie können Schwarzweissbilder, Farbbilder und Farbdias machen, je nachdem welchen Film Sie verwenden.1
Im Nachlass meines Großvaters fanden sich zwei Kameras. Eine Kodak Instamatic 100 und eine Zeiss Ikon Nettar 515/2. Als ich mich auf den Weg machte, mehr über das Leben meines Großvaters zu erfahren, beschloss ich, die Orte, die ich besuchen würde, mit seiner Originalkamera zu dokumentieren. Eigentlich hätte ich mich aus einer Vielzahl von Gründen für die Zeiss Ikon entscheiden müssen: Dieser Apparat hatte Karl an die Fronten des Krieges begleitet. Seine mit dieser Kamera gemachten Aufnahmen würden eine wichtige Rolle bei meinen Recherchen und in diesem Buch spielen. Die Zeiss Ikon ist außerdem die eindeutig bessere Kamera, die Instamatic eher ein Spielzeug, gekauft irgendwann in den 1960er-Jahren. Trotzdem beließ ich die Rollfilmkamera, wo ich sie gefunden hatte. Aus zwei einfachen Gründen: Erstens bin ich ein miserabler Fotograf – die Zeiss hätte mich überfordert – und zweitens habe ich meinen Großvater nie mit der Zeiss-Kamera fotografieren sehen. An die Instamatic in seinen Händen kann ich mich aber gut erinnern.
Leider wurde die Produktion der für die Instamatic notwendigen Kassettenfilme 2007 eingestellt, sodass ich gezwungen war, schon abgelaufene Filme im Internet zu ersteigern, aber irgendwie passt das ja zum Projekt, dachte ich mir.
1Aus einem Werbetext der Firma Kodak für die Instamatic-Kamera (1960er-Jahre).
Prolog oder „Jever Licht“
„Man besucht sich ja nur selber, wenn man zu den Toten geht.“
(Kurt Tucholsky: Schloß Gripsholm )
Mein Opa, Karl Krüger, starb am 17. Mai 1993. Kurz zuvor, es mag am Freitag, den 7. Mai, gewesen sein, bekam ich mein Abiturzeugnis ausgehändigt. Meine Eltern waren damals zur Kur irgendwo im Süden der Republik und wir nutzten, recht schamlos, die Abwesenheit der Erziehungsberechtigten aus, um in ihrem Haus Party zu machen.
Meine Großeltern lebten auf dem gleichen Grundstück wie wir. Sie bewohnten das alte Fachwerkvorderhaus, wohingegen wir im Neubau zum großen Garten hinaus residierten. Ich erinnere mich noch genau an die mal wohlwollenden, mal skeptischen Blicke und Kommentare meines Opas – ja, auch der Oma – bezüglich des sich vor ihren Augen abspielenden tagelangen Abitur-Party-Rausches. Meine Oma – Toni war ihr Name, stand auch so in ihrem Pass – kam dann mit grimmigem und leidendem Blick die kurze Treppe hinauf, die vom Alt- zum Neubau führt, und versuchte, uns die ausgelassene Stimmung zu vermiesen, indem sie sich über die Lautstärke beschwerte und nachfragte, ob denn die Freundinnen und Freunde, die da auf dem elterlichen Teppich und Sofa herumlungerten, nicht auch einmal nach Hause müssten. Es war mir peinlich, wenn sie das tat, mich vor meinen Freunden zurechtwies.
Dies war auch das Wochenende, an dem ich mit meinem Mitschüler Jörg versuchte, so viele Hannen-Alt-Flaschen leerzutrinken und auf den Terrassenboden zu platzieren, bis dieser komplett mit Flaschen gefüllt wäre. Mein Opa ging, während wir uns oben der x-ten Altbierflasche widmeten, unten an der Terrasse vorbei in den Garten, schaute kurz herauf und meinte, ob es nicht Zeit wäre, ein paar leere Flaschen in den Altglascontainer zu bringen. Unser Anliegen blieb ihm unverständlich.
Zu erwähnen sind wohl auch die ausgedehnten, sich auf dem Wohnzimmerteppich abspielenden, nicht so recht erfolgreichen Annäherungsversuche an Nicole, einer Frau, die nachhaltig meinen Geschmack, vor allem in Bezug auf Musik, Kleidung und Kunst sowie natürlich in Bezug auf Frauen geprägt hat. Ich verehrte Nicole, die auch in meinem Abiturjahrgang war, schon seit Jahren. „Verehrte“ ist zu schwach, ich himmelte sie an. Sie verkörperte, was ich mir unter dunkel, alternativ und unangepasst vorstellte. Sie trug immer schwarz, hatte seltsam andere Freunde und hörte Musik, die sonst niemand, den ich kannte, mochte, geschweige denn kannte. An einem dieser Abende, irgendwann zwischen der Zeugnisausgabe und dem Tod meines Großvaters, brachte sie einige ihrer Schallplatten mit, wir öffneten einen schweren roten Franzosen aus dem Keller meines Vaters, rauchten, lagen auf dem Wohnzimmerteppich und degustierten Nicoles Tonträger: Es war die 1989 erschiene LP Haus der Lüge von den Einstürzenden Neubauten, die mich völlig aus dem Konzept brachte. Ich erinnere mich an eine stundenlange Diskussion mit Nicole über eine Zeile aus dem Mund des Sängers der Neubauten: „Gott hat sich erschossen, ein Dachgeschoss wird ausgebaut“. An dieser Stelle sollte vielleicht gesagt werden, dass weder Nicole noch ich aus einer aufgeklärten, urbanen Bildungsbürgerfamilie kamen, sondern dass sich all dies in einem kleinen Dorf in Niedersachsen abspielte.
‚Gott ist tot‘ und die Unverblümtheit, mit der diese These aus den Blaupunkt-Lautsprechern meiner Eltern hallte, war für uns noch verstörend. Hinzu kam, dass es genau diese Platte war – auf ihrem Cover ist ein pinkelndes stilisiertes Pferd abgebildet –, vor der mich unser Gemeindepastor gewarnt hatte: Denn als sich im Jahr zuvor, ausgerechnet am Neujahrsmorgen 1992, unser Mitschüler S. das Leben nahm, machten dessen Eltern und Pastor den schlechten Einfluss eben dieser Langspielplatte hierfür verantwortlich. S. hatte außerdem ein Tour-Poster mit der Coverabbildung in seinem Zimmer aufgehängt und liebte die Neubauten, so berichtete es mir immerhin der Dorfpfarrer. Mich hat Haus der Lüge bisher nicht in den Selbstmord getrieben, eher dazu, mir nach und nach alle Veröffentlichungen der Einstürzenden Neubauten zu kaufen.
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