1 ...8 9 10 12 13 14 ...22 Unserer Meinung nach ist es daher dringend nötig, Methoden der Selbsterfahrung in die politische Bildung zu integrieren. Die Auseinandersetzung mit sich selbst und der eigenen (Familien-)Geschichte kann ein Schlüssel zur Gesellschaft sein und ins Handeln bringen. Denn: Wie soll ein Mensch ein gesellschaftliches System mittragen und mitgestalten, wenn er sich kaum zutraut, sein eigenes, ganz persönliches System zu gestalten? Wie soll ein Mensch gesamtgesellschaftliche Werte verteidigen, wenn er sich seiner eigenen wenig bewusst ist? Wie soll ein Mensch die Biografie eines anderen wertschätzen, wenn er mit seiner eigenen hadert?
Damit Menschen eher ins Handeln kommen, sollten sie sich ihrer Wünsche und Bedürfnisse bewusst sein. Wenn sie ihre Ressourcen und Stärken kennen, fällt es ihnen leichter, sich Verbündete und Gleichgesinnte zu suchen. Wenn sie wissen, auf welchem tragenden Fundament ihr Leben ruht und mit welchen Fähigkeiten sie ausgestattet sind, dann wächst das Zutrauen, etwas bewegen zu können. Mittel und Wege, sich dessen bewusst zu werden und eigenes Handeln zu initiieren, kennt die systemische ressourcenorientierte Biografiearbeit (vgl. Röhrbein 2019). Biografiearbeit ist eine sehr gute Möglichkeit, die Dinge zu sortieren und die eigene Position zu festigen. Sie kann dabei helfen, die eigenen Ressourcen zu erkennen und zu klären, wie sie genutzt werden können, um das künftige Leben gut zu gestalten. Hilfreiche Fragen können dabei lauten: »Was macht mich aus?«, »Welches sind meine Stärken?«, »Was will ich erreichen?« und »Wen habe ich (dabei) an meiner Seite?«
Um allerdings ins gesellschaftliche Handeln zu kommen, müssen Menschen womöglich noch einen Schritt weiter gehen: Sie sollten ihre Werte kennen, im besten Fall verstehen, wodurch diese Werte geprägt sind. Sie sollten eine Idee davon haben, in welcher Gesellschaft sie eigentlich leben möchten und die Instrumente überblicken, die sie nutzen können, um Gesellschaft mitzugestalten. Hier zeigt sich, dass die politische Bildung (Wissenserweiterung) und die systemische Biografiearbeit (sich seiner selbst bewusst zu sein) eine geniale, weil aktivierende Verbindung eingehen können.
Politische Bildung und systemische Biografiearbeit haben im Grundsatz vieles gemeinsam: Sie wollen den Menschen dabei unterstützen, sein eigenes Leben und Umfeld im eigenen Sinne zu gestalten.
Sie lenken den Blick auf Wechselwirkungen und Gesamtzusammenhänge. Sie arbeiten ressourcenorientiert und im besten Sinne des Wortes allparteilich (auf dem Boden des Grundgesetzes). Die Biografiearbeit kann darüber hinaus als Teil der politischen Bildung eine Leerstelle füllen: nämlich das Bewusstsein dafür schärfen, sich selbst als politisches Wesen innerhalb der Gesellschaft wahrzunehmen. Im Zusammenspiel der Disziplinen werden Menschen dazu eingeladen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen und aktiv ins Geschehen einzugreifen, weil sie sich der eigenen Wurzeln, Werte und Stärken bewusster werden.
Im Rahmen der Tagung »30 Jahre Mauerfall – Die Freiheit, die ich meine. Auf Spurensuche – zwischen Identität und Wandel«, einer Veranstaltung der Deutschen Gesellschaft für Systemaufstellungen zum Jahrestag des Mauerfalls, hatten wir die Möglichkeit, einen ersten Testballon zu starten und 90 Minuten lang die sinnhafte Verknüpfung von Biografiearbeit und politischer Bildung vorzustellen.
Die drei konkreten Ziele des Workshops waren:
1)ganz grundsätzlich: der Omnipräsenz von Politik im Persönlichen Raum zu geben
2)die Teilnehmenden darin zu unterstützen, sich als Teil der Gesellschaft wahrzunehmen
3)gemeinsam mit den Teilnehmenden Ideen zu entwickeln, wie sie ins gesellschaftliche Handeln kommen können.
Bereits der Einstieg über die Methode der Landkarte (die Teilnehmenden verorten sich anhand einzelner Fragen, z. B.: »Wo bist du aufgewachsen?«, »Wo wohnst du heute?«, »Mit welchem Ort verbindest du einen persönlichen politischen Moment?«) zeigte, wie eng verknüpft die eigene Biografie mit politischen Ereignissen ist. Schnell wurden verbindende Erinnerungen und Gemeinschaftserfahrungen wach: »Da war ich auch dabei!« oder »Ja, das war echt unglaublich«. Kleine Anekdoten und berührende Erlebnisberichte führten zu einer großen »Dichte« und spannenden »Zeitreise«.
In einem weiteren Schritt positionierten sich die Teilnehmenden dann auf einer Skala von 0 bis 100, zu wie viel Prozent sie sich als »politisch« erleben, und begründeten ihren Standpunkt. Nach einem interessanten Austausch im Plenum wechselten wir in kleinere Einheiten.
Im Zweierinterview tauschten sich die Teilnehmenden schließlich darüber aus, wodurch ihre persönliche innere Landkarte geprägt worden ist und wie sie sich als Teil der Gesellschaft wahrnehmen und erleben. Zur Inspiration dienten dabei zunächst die folgenden Satzanfänge, die von den Dialogpartnerinnen und -partnern ergänzt werden sollten:
•»Im Verlaufe meiner bisherigen Biografie/meines bisherigen Lebens habe ich profitiert von …«
•»Meine Zufriedenheit/Mein Wohlgefühl steigt, wenn …«
•»Ich habe im Leben anderer Spuren hinterlassen durch …«
•»Als Teil unserer Gesellschaft kann ich darauf bauen, dass …«
Direkt anschließend setzten die Beteiligten das Gespräch anhand der folgenden Fragen weiter fort und entwickelten erste bzw. weitere konkrete Ideen für eigene Projekte:
•»In welchen Momenten in deinem Alltag fühlst du dich als (ein aktiver) Teil der Gesellschaft?«
•»Für wen spielst du eine wichtige Rolle im Leben? Was würde diese Person sagen, was es ohne dich nicht geben würde?«
•»Wo möchtest du in deinem Umfeld gerne Veränderung anstoßen? Welche zentrale Fähigkeit bringst du dafür mit? Und wen kannst du als Verbündete/-n dafür gewinnen?«
Im Plenum folgte eine längere Diskussion darüber, was genau unter »Politik« zu verstehen ist und wo die Grenze zwischen dem politischen und dem vorpolitischen Raum verläuft. Aus unserer Sicht war es ein weiterer wichtiger Aspekt des Workshops, diese Vielfalt der Einschätzungen stehen zu lassen und keine abschließende Antwort darauf zu finden, denn es existieren diesbezüglich (auch) in der Politikwissenschaft zahlreiche unterschiedliche Auffassungen. Im Rahmen unserer Arbeitseinheit war es uns ein zentrales Anliegen, den Beteiligten eine Auseinandersetzung mit der politischen Sphäre und das Sich-in-Beziehung-Setzen mit Gesellschaft zu ermöglichen. Wo bin ich betroffen? An welcher Stelle kann ich einen Unterschied machen? Was bringe ich dafür mit, und auf wen kann ich dabei vertrauen?
In einem letzten Schritt ging es in unserem Workshop noch einmal in Kleingruppen darum, konkrete Veränderungsszenarien zu entwerfen:
•»Welche Themen treiben dich aktuell um?«
•»Welchen Aspekt in deiner Umgebung kannst und willst du verändern?«
•»Welche Beteiligungsmöglichkeiten siehst du?«
•»Was kannst du gleich heute bzw. morgen, wenn du wieder zu Hause bist, konkret unternehmen?«
Bereichert durch zahlreiche berührende Geschichten, kritische Impulse, spannende Ideen, humorvolle Anekdoten und einer wahrgenommenen Verbundenheit in aller Unterschiedlichkeit, nahmen wir schließlich Abschied von zumeist zufriedenen Teilnehmenden und fühlten uns bestärkt in der Idee: »Davon geht noch mehr, denn es ergibt Sinn!«
Den Ansatz, systemische Biografiearbeit als Methode der politischen Bildung zu nutzen, um Menschen ins gesellschaftspolitische Handeln zu bringen, haben wir nicht erfunden. Er wird schon an vielen Stellen in der Praxis erfolgreich umgesetzt. Allerdings ist er in der Fläche noch wenig bekannt und bislang kaum beschrieben. Da wir dieser Verbindung zutrauen, einen Unterschied bilden und die Demokratie stärken zu können, möchten wir hier einen kleinen Beitrag leisten und dazu ermutigen, systemisches Denken noch stärker für gesamtgesellschaftliche Prozesse nutzbar zu machen (sei es in Form von Workshops, Einzelgesprächen, im schulischen wie außerschulischen Kontext u. v. a. m.).
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