1 ...6 7 8 10 11 12 ...22 Diese Zeiten sind vorbei, und wir sind eingeladen, nicht in einer Art Retro-Illusion zu leben, wozu Populisten auffordern, als habe es Evolution nie gegeben.
Und, noch einmal, das mächtigste Mittel dafür sind die Fakten und die Freude daran, sie zu kennen und zu verbreiten.
Eben habe ich frisch aus der Druckerei Norbert Pötzls Buch Der Treuhand-Komplex (Pötzl 2019) bekommen, das zurzeit wohl beste Buch über Treuhand und Wende.
Am Schluss erwähnt Pötzl den Verein »Ost-West-Forum Gut Gödelitz«, dessen Beschreibung ich an Sie weitergebe als eines der wesentlichen Anliegen auch dieser Tagung:
»Im Gutshaus Gödelitz (Nähe Dresden) erzählen sich regelmäßig seit 1994 jeweils eine Handvoll Ost- und Westdeutsche ein Wochenende lang gegenseitig ihre Lebensgeschichten. Wolfgang Thierse (aus Ostdeutschland stammender Ex-Bundestagspräsident u. v. m.) und der niedersächsische, aus Mecklenburg stammende Politologe Peter von Oertzen haben die Anregung zu dieser Dialogform gegeben. Die Gesprächsteilnehmer, insgesamt waren es bereits mehr als 3000, hören einander zu, lassen ausreden, niemand wird beurteilt oder kritisiert. Damit sollen vor allem die tief gehenden Vorurteilsstrukturen aufgebrochen werden, die die Beziehungen zwischen Ost und Westdeutschen belasten.«
Diese Tagung war gewiss ein eigenes, wertvolles Ost-West-Forum Naumburg – vielen Dank und alles Gute!
Nachwort
Populismus und Corona-Pandemie
Zum Zeitpunkt dieses Nachwortes (26. April 2020) hat sich die Corona-Pandemie über nahezu alle Länder der Welt ausgebreitet.
Die wenigen noch nicht flächendeckend betroffenen schwarzafrikanischen Länder wird es wegen der extrem schlechten Struktur ihrer Gesundheitssysteme mit besonderer Härte treffen.
Diese Phase – vor der kausalen Therapie durch einen Impfstoff und vor dem Einsatz wirksamer Medikamente – ist vor allem dadurch gekennzeichnet, dass es über die genaue(n) Ursache(n), den weiteren epidemiologischen und in der Folge den möglichen wirtschaftlichen Verlauf (etwa eine Sturmflut von Insolvenzen) noch keine verlässlichen Aussagen und Prognosen geben kann.
Und damit ist gegenwärtig auch nur ein langsames, sehr vorsichtiges Voranschreiten hinsichtlich Schutz- und Freiheitsmaßnahmen möglich.
In diesem kurzen Nachwort möchte ich ein paar Beobachtungen zusammentragen, wie populistische Parteien mit dieser Lage umgehen. Vor allem ist »diese Lage« eines: global – in jeder Hinsicht. Kein einziger Mensch hat vor dem Hintergrund eigener Interessen oder Entscheidungen dieses Virus geschaffen noch willentlich zu seiner grenzenlosen Verbreitung beigetragen. Die Pandemie setzt sich über alles hinweg, so als würde sich aufgrund von kosmischen Ereignissen der Sauerstoffgehalt der Atemluft auf einmal ändern.
Auf einen solchen Sachverhalt hält populistisches Ideengut und Handeln offensichtlich keine adäquate Antwort bereit. Die typisch populistische Polarisierung in »Wir, das eigentliche Volk versus die Eliten, die Anderen, Fremden, Ausländer, Migranten etc.« ergibt keinen Sinn in einer Pandemie – es sind halt alle gleichermaßen betroffen.
Populistische Hochburgen wie Matteo Salvinis Lega Nord mit ihrem Schwerpunkt in Norditalien z. B. in Bergamo; die USA unter Trumps Desorganisation inklusive wahnwitziger »Einfälle« (Desinfektionsmittel zur inneren Anwendung); in Brasilien Jair Bolsonaros Verharmlosung der Pandemie als »Grippchen«; auch Boris Johnsons lang anhaltende Leugnung der Gefahr für Großbritannien – in diesen Einflussgebieten sind besonders schlimme Verläufe der Pandemie zu verzeichnen.
Die AfD hat sich in Sachen Pandemie zerstritten (s. etwa Spiegel 17/17.4.2020) und hat in den vergangenen Monaten deutlich an Zustimmung eingebüßt. In dieser Pandemie kann keine kleinsinnige Fraktion sich mit ihrem lokalen Dialekt als Opfer bzw. potenzieller Retter anbieten – die Fakten sprechen eine ganz andere, eine globale Sprache.
Wir können während dieser Pandemie an vielen Orten beobachten, wie Hilfsbereitschaft, Wohlwollen, freundliche Zuwendung und Anteilnahme Ausdruck finden, so als zeigte sich unser ursprünglich freundliches Wesen unter diesen widrigen Umständen besonders »gerne« oder selbstverständlich – nicht weil das moralisch wünschenswert wäre, sondern weil es allen guttut und weil es sich so einfach besser lebt.
Und wir sind ebenso Zeugen von ganz anderen, üblen und destruktiven Vorfällen, die Fassungslosigkeit hinterlassen.
Ich neige zu der Sicht von Stefano Mancuso, Dozent für Neurobiologe und Botanik an der Universität von Florenz, der das Überleben der Spezies Mensch von der Einsicht abhängig sieht, dass Kooperation viel erfolgreicher ist als Konkurrenz und dass alle Formen von »Wir zuerst« selbstschädigend und am Ende zum Scheitern verurteilt sind. Siehe auch sein einschlägiges Buch Die Intelligenz der Pflanzen (2015).
Das ist es, was ich angesichts einer tatsächlich globalen Bedrohung zu erkennen meine: eine globale menschliche Antwort, die in jedwedem populistischen Rahmen zu eng gefasst ist, ihn sprengt und überschreitet.
(Es sind hier auch einige inhaltlich relevante Bücher aufgeführt, die im Text nicht erwähnt sind.)
»Das Einheits-Gold wird braun«. Süddeutsche Zeitung , 1.11.2019.
»Der Aufbruch«. Spiegel , 17/17.4.2020.
Detering, H. (2019): Was heißt hier »wir«? – Zur Rhetorik der parlamentarischen Rechten. Ditzingen (Reclam).
Hochhuth, R. (1993): Wessis in Weimar: Szenen aus einem besetzten Land. Berlin (Volk & Welt). 13
»Jeder vierte Deutsche denkt antisemitisch«. Zeit , 24.10.2019.
Köpping, P. (2018): Integriert doch erst mal uns – Eine Streitschrift für den Osten. Berlin (Ch. Links).
Kowalczuk, L.-S. (2019): Die Übernahme – Wie Ostdeutschland Teil der Bundesrepublik wurde. München (Beck).
Ludwig, J. (2018): Populismus. Hamburg (Carlsen).
Mancuso, S. (2015): Die Intelligenz der Pflanzen. München (Antje Kunstmann).
Müller, J.-W. (2016): Was ist Populismus? Ein Essay. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Müller, J.-W. (2019): Furcht und Freiheit: Für einen anderen Liberalismus. Frankfurt a. M. (Suhrkamp).
Pinker, S. (2011): Gewalt – Eine neue Geschichte der Menschheit. Frankfurt a. M. (S. Fischer).
Pinker, S. (2018): Aufklärung jetzt. Für Vernunft, Wissenschaft, Humanismus und Fortschritt. Eine Verteidigung. Frankfurt a. M. (S. Fischer).
Pohl, R. (2019): Feindbild Frau. Hannover (Offizin).
Pötzl, N. F. (2019): Der Treuhand-Komplex. Legenden. Fakten. Emotionen. Hamburg (kursbuch.edition).
Rosling, H. (2018): Factfulness – Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie ist. Berlin (Ullstein).
Simon, F. B. (2019): Anleitung zum Populismus. Oder: Ergreifen Sie die Macht! Heidelberg (Carl-Auer).
Wüllenweber, W. (2018): Frohe Botschaft – Es steht nicht gut um die Menschheit – aber besser als jemals zuvor. München (DVA).
5Atomwaffen-Division. Verfügbar unter https://de.wikipedia.org/wiki/Atomwaffen_Division[9.8.2021].
6Siehe z. B. im Literaturverzeichnis unter Walter Wüllenweber und Steven Pinker.
7Ein weiteres Merkmal des Populismus ist eine weitverbreitete Frauenfeindlichkeit. Die vermeintliche Schwächung weißer Männer durch eine Überschwemmung mit nichtdeutschen Migranten, deren besondere Fruchtbarkeit und die Verdrängung der »ursprünglichen, gesunden Kleinfamilie« nötigen deutsche Männer, sich jetzt als besonders stark und männlich zu erweisen und die Frauen zur intensivierten Wiedervermehrung des deutschen Volkes in ihre traditionelle Rolle als Mutter zurückzuverweisen. S. auch in der Literaturliste Rolf Pohl (2019). In diesem Text hier wird dieses Thema nicht zusätzlich behandelt.
Читать дальше