1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Über meine Schulter hinweg werfe ich Elevander einen Blick zu. Mein bester Freund wirkt besorgt. Er ist meine Familie. Er gibt mir die Kraft, die ich brauche.
»Helft mir, ihn von hier wegzubringen«, rufe ich. »Oremazz muss sich ausruhen. Wir müssen ihn ins Innere tragen. Bitte, jemand muss mit anpacken.«
Misstrauische Blicke streifen mich. Niemand scheint davon überzeugt zu sein, dass ich weiß, was zu tun ist. Tja, da geht es mir wie diesen Menschen.
Ich greife unter Oremazz’ Achseln und will ihn hochhieven. Auch wenn der Große Zaubermeister ein Mann von schmaler Gestalt und nur unmerklich größer ist als ich, gelingt es mir nicht, ihn hochzuheben. Es spielt keine Rolle für mich, wie lächerlich ich wirken muss, als ich rückwärtsstolpere und dabei meinen Großvater mit mir ziehe. Auf diese Art werde ich ihn unmöglich die Stufen hochbringen können. Aber wenigstens tue ich etwas.
»Ich nehme seine Beine«, sagt Elevander und klingt ein wenig außer Atem vom Laufen. »Gemeinsam schaffen wir ihn mit Sicherheit schneller nach drinnen.«
»Danke für deine Hilfe.« Ich warte, bis Elevander bei den Füßen meines Großvaters angelangt ist und sie anhebt. Gerade, als ich ihm ein Zeichen geben will, dass wir losmarschieren können, schlägt der Große Zaubermeister die Augen auf.
Er reißt den Mund auf, saugt hungrig Luft in seine Lungen. Die Farbe kehrt auf seine Wangen zurück. Seine Gesichtszüge entspannen sich.
Erschrocken lasse ich Oremazz los, weshalb er unsanft auf dem Boden aufkommt. Obwohl ich erleichtert bin, dass er sein Bewusstsein zurückerlangt hat, habe ich Angst vor dem Ausdruck in seinen Augen. Darin spiegelt sich eine neue Dunkelheit, etwas Böses, das nichts mit seiner eigenen Grausamkeit zu tun hat.
»Was tust du denn da?«, blafft der Große Zaubermeister mich an. »Warum versuchst du, mich zu tragen?«
»Du bist bewusstlos geworden. Ich hatte Angst, du wärst von etwas besessen …«
»Und das wolltest du mir in einem dreckigen Graben austreiben?« Mein Großvater ergreift die Hand, die Elevander ihm entgegenstreckt, rappelt sich mit seiner Hilfe auf und klopft sich den Dreck von der Kleidung. Sonderlich erfolgreich ist er damit nicht.
Verunsichert trete ich zurück. »Ich dachte, in deinem Studierzimmer einen Hinweis darauf finden zu können, wie ich dir helfen sollte.«
Oremazz seufzt. »In meinen Unterlagen entdeckst du bestimmt nichts, was mit dieser Vision zusammenhängt. Hätte ich vorhergesehen, Bilder der Zukunft zu erhalten, hätte ich selbst Vorkehrungen getroffen. Denk das nächste Mal besser nach. Jetzt ist meine gute Tunika völlig umsonst verdreckt.«
»Tut mir leid, Großer Zaubermeister. Dann hattest du eine Vision? Dabei bist du bis jetzt doch niemals ohnmächtig geworden.«
»Die Bedrohung ist auch näher als jemals zuvor. Ich muss sofort mit dem Fürsten sprechen. Du wirst in der Zwischenzeit ein paar Sprüche üben. Das, was du vorhin zustande gebracht hast, ist meines Enkels nicht wert.« Als er losmarschiert, scheint er Elevander das erste Mal zu bemerken, obwohl er ihm hochgeholfen hat. »Hast du nichts Besseres zu tun, als mich anzustarren?«
»Tatsächlich hätte ich Wichtigeres zu erledigen«, gibt mein bester Freund zu. »Ich dachte allerdings, es wäre ein Gebot der Höflichkeit, erst Lesithder dabei zu helfen, Euch zu versorgen.«
Der Große Zaubermeister macht eine wegwerfende Handbewegung. »Hätte er so viel Anstrengung ins Lernen der notwendigen Sprüche gesteckt, wäre unsere Lage jetzt nicht so angespannt. Mach dich endlich auf den Weg, Lesithder. Die Zeit arbeitet gegen uns.«
Ich nicke Elevander zur Verabschiedung zu und gehe dann durch einen Durchgang zu den Stufen, die mich zum Studierzimmer meines Großvaters bringen werden. Das Drängen in seiner Stimme gefällt mir nicht. Es scheint, als hätte ihn diese Vision aufgewühlt. Ob die Zeit tatsächlich knapp wird? Was, glaubt er, wird passieren, wenn sie abgelaufen ist?
Während ich mich noch auf dem Gang befinde, höre ich, dass im Innenhof Unruhe entsteht. Ein Reiter prescht ins Schloss und springt ab, bevor seine Reitechse vollständig angehalten hat. Er bellt Befehle, verlangt, sofort zum Fürsten vorgelassen zu werden.
Beunruhigt beobachte ich die Aufregung im Innenhof, bevor ich das Studierzimmer betrete. Die Geschehnisse scheinen sich tatsächlich zu überschlagen. Welche Neuigkeiten der Reiter dem Fürsten wohl übermitteln will? Ich befürchte, es handelt sich um keine guten.
»Es ist noch schlimmer, als ich nach meiner Vision vermutet habe«, sagt Oremazz, als er Stunden später zu mir kommt. Tiefe Furchen verunzieren seine Stirn. Sein Blick ist abwesend, als er auf dem Stuhl an seinem Schreibtisch Platz nimmt.
Ich klappe das Buch zu, in das ich vertieft gewesen bin, und trete näher. »Aus welchem Teil des Landes hat der Reiter Nachrichten ins Schloss gebracht? Weißt du, was er von unserem Fürsten wollte?«
»Unsere Feinde sind näher, als ich befürchtet habe. Der Bote hat einen Brief von Pitreu, dem Fürsten des Küstenstaates Nialling, überbracht. Der hat ihn mit Hilfe einer Flugechse an Ethoss geschickt, um ihn zu warnen, und der hat … Egal. Viel wichtiger ist, was in dem Schreiben gestanden hat. Unbekannte Boote haben sich Nialling genähert. Kriegsschiffe mit schwerer Bewaffnung, die außer Reichweite im Meer vor Anker gegangen sind. Auch wenn die Schiffe wieder aus der Sicht der Wachtürme verschwunden sind, werden sie zurückkehren. Bald. Sie werden Soldaten an unsere Küsten bringen, die uns vernichten sollen. Der Krieg steht unmittelbar bevor.«
»Bei allen Göttern!« Panik verursacht einen harten Knoten in meinem Magen.
»Die können uns nicht helfen. Die scheinen uns verlassen zu haben, wenn sie die Gefahr nicht abgehalten haben. Wir sind auf uns allein gestellt. Jeder von uns muss jetzt seine Aufgabe kennen, ihr seine Seele widmen und sie ohne Zögern erfüllen.«
Widerstand regt sich in mir. Das, was er gerade dem armen Mann angetan hat, darf nicht noch einmal passieren. Die Erinnerung an die Vision, die er mit mir geteilt hat, drängt in mein Bewusstsein. Wenn es uns gelingt, mit Zaubern wie diesem unseren Feinden zu schaden, werden wir sie anwenden müssen. Zukünftige Versuche an Unschuldigen werde ich nicht dulden; wenn der Krieg allerdings bald an unsere Haustüre klopft, werde ich mich meiner Aufgabe stellen müssen. Deshalb nicke ich mit bangem Herzen.
»Zum Glück sind die Verhandlungen mit den Herrschern der angrenzenden Länder bereits so gut wie abgeschlossen. Unser Fürst hat fast alle davon überzeugen können, dass wir nur gemeinsam in den Krieg ziehen können. Leider haben die Mächtigen unseres Kontinents sich nicht darauf einigen können, einen Anführer zu wählen, der die Truppen aller Länder führt. Wenn ich daran denke, welch ein Chaos entstehen könnte, wenn jeder Fürst seinen Soldaten andere Anweisungen gibt … Jemand muss die Männer anführen.«
»Wenn die Zeit gekommen ist, werden die notwendigen Entscheidungen gefällt werden«, versichere ich ihm. »Jemand wird unsere Völker vereinen. Unser Fürst Manekas wird die richtigen Worte finden.«
»Er ist bei den Bewohnern von Maëlle beliebt, weil sein Vater als gütiger und gerechter Herrscher bekannt war. Noch hat unser junger Fürst sich nicht beweisen müssen. Ich hoffe, er ist dieser Aufgabe gewachsen.«
»Wir werden es schaffen«, versuche ich, den Großen Zaubermeister zu beruhigen. »Da wir alle wissen, was davon abhängt, werden wir unser Bestes geben.«
»Ich dachte, wir hätten mehr Zeit«, murmelt Oremazz. Er klingt entsetzt und hoffnungslos zugleich, während er mich betrachtet. Sein faltiges Gesicht ist eine Maske des Grauens. In seinen blauen Augen lodert die Dunkelheit. So habe ich ihn noch nie gesehen.
»Wir wussten, dass wir uns beeilen müssen.«
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