»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«, frage ich. »Was, wenn jemand bemerkt, was wir tun? Was werden die Leute denken, wenn wir unsere Macht nicht auf verantwortungsvolle Weise einsetzen?«
»So ein Schwachsinn! Hast du vielleicht vor, unsere Feinde um Erlaubnis zu fragen, bevor du sie kampfunfähig machst?«
»Nein, aber das kannst du nicht vergleichen. Willst du einen unschuldigen Menschen in Angst und Schrecken versetzen …?«
Mein Großvater stößt einen Laut der Verärgerung aus. Mit dem Blick, den er mir zuwirft, könnte er glühende Kohlen zu Eis verwandeln.
Oremazz packt eines seiner Bücher – wozu er es benötigt, weiß ich nicht – und verlässt den Raum. Ich folge ihm auf den Gang. Es wäre ein Leichtes für uns, mit einem Zauber innerhalb einer Sekunde in den Hof zu gelangen. Er liebt den großen Auftritt. Doch dafür hat er es nicht nötig, Magie anzuwenden.
Bei jedem Schritt, den wir im Schloss zurücklegen, halten die Leute ehrfurchtsvoll inne. Die Frauen sinken in einen tiefen Knicks. Die Männer verbeugen sich. Während man ihn grüßt, wird der Name meines Großvaters nur leise gemurmelt. Es scheint, als wolle man ihn nicht abnutzen, als beinhalte er einen Zauber, den es zu bewahren gilt.
Obwohl ich direkt neben ihm gehe, werde ich keines Blickes gewürdigt. Als sein Enkel könnte ich eine gewisse Sonderstellung in unserer Gemeinschaft einnehmen. Das ändert allerdings nichts daran, dass ich neben Oremazz nicht beachtet werde.
»Warte hier«, befiehlt der Große Zaubermeister, als wir auf den Innenhof gelangen.
Eine Frau mit einem Korb voller Wäsche läuft an uns vorbei. Als sie in den Knicks sinkt, steigt sie sich auf den Saum ihres Kleides, das unter der Toga hervorschaut. Ich greife nach ihrer Hand, um sie am Fallen zu hindern. Sie flüstert einen Dank, bevor sie weitereilt.
Mein Großvater nimmt die Aufregung der Frau gar nicht wahr und eilt über den Hof. Vermutlich macht er sich auf die Suche nach einem geeigneten Opfer für unseren Versuch. In mir brodelt Unwohlsein. Das ist wohl ein schlechter Traum. Gleich wache ich auf. Das kann er doch nicht tun! Sucht er möglicherweise jemanden, der leicht zu manipulieren ist? Oder möchte er mir die Sache nicht zu leicht machen? Ich hätte nichts dagegen, einen kleinen Erfolg vorweisen zu können, auch wenn ich den Gedanken hasse, irgendjemanden gegen dessen Willen zu beeinflussen. Ich will das nicht!
Beiläufig beobachte ich das Treiben auf der plattgetretenen Fläche, die fünfzig Schritte auf der einen Seite und gut hundert auf der anderen Seite breit ist. Ein Mann repariert das Rad eines Karrens. Zwei weitere zimmern an einem Hühnerstall, was den Unmut einer Frau erweckt, die lautstark nach der Verlegung der Baustelle fordert.
Dann verändert sich etwas. Meine Nackenhaare richten sich auf, während mein Herz einen Hüpfer macht. Frieden breitet sich in mir aus. Er ist da.
Ich nehme seine Aura wahr, bevor er mich anspricht. Gesichter habe ich mir noch niemals gut gemerkt. Sie sind leicht zu verwechseln, austauschbar, verändern sich je nach Laune. Die Aura eines Menschen bleibt allerdings immer gleich.
»Was tust du hier? Solltest du nicht im Studierzimmer über deinen Büchern brüten?« Elevander bleibt hinter mir stehen.
Einen Moment lang habe ich Oremazz aus den Augen verloren. Dann entdecke ich ihn an den Stufen, die zum Rundgang im ersten Stock führen. Will er von dort aus den Zauber wirken?
»Ich soll mich an einem Opfer versuchen, das nichts von der Manipulation ahnt«, gestehe ich. Mein bester Freund weiß über die Täuschung Bescheid, die mein Großvater und ich planen. Ich musste mich jemandem anvertrauen, auch wenn der Große Zaubermeister das bestimmt nicht gutheißen würde.
»Eigentlich soll ich einen Schrank für die Bibliothek ausmessen. Jetzt lasse ich mir damit noch ein wenig Zeit. Wann geht es los?«
»Willst du wirklich dabei zusehen, wie ich mich vor allen lächerlich mache?«, frage ich.
Elevander lacht leise. »Vielleicht solltet ihr nicht nur an deinen Fähigkeiten als Zauberer arbeiten. Es würde nicht schaden, wenn ihr dein Selbstbewusstsein aufbauen würdet.«
Ich unterdrücke ein trauriges Seufzen. »Dafür haben wir keine Zeit. Mein Großvater gibt mir sehr deutlich zu verstehen, dass ich seine Erwartungen bei den Aufgaben nicht erfülle, die ich unbedingt erlernen muss. Wenn wir uns dann noch bei Nebensächlichkeiten verzetteln, wird das niemals etwas mit meiner Funktion als Simulationszauberer.«
Mein bester Freund hebt eine Augenbraue. »Das Problem verstehe ich nicht ganz. Warum kann dein Großvater denn nicht an deiner statt diese Reise unternehmen, wenn er der Meinung ist, bei ihm handle es sich um den besten Zauberer für diese Aufgabe?«
»Er ist nicht mehr jung genug«, zische ich Elevander zu, als ich den intensiven Blick von Oremazz auf mir spüre. Wenn ich mich jetzt nach meinem Großvater umsehen würde, könnte ich ihn nicht entdecken. Er hat sich einen Platz gesucht, an dem er keine Aufmerksamkeit erregt. Ich kann fühlen, wie er auch meine Augen benutzt, um sich einen besseren Überblick zu verschaffen.
»Weshalb lässt er dich dann nicht die Zauber lernen, die notwendig sind?«, will Elevander wissen. »Ihr hattet zwei Jahre, um aus dir einen echten Zauberer zu machen. Wieso hat er diese Zeit nicht genutzt?«
»Weil ich nicht gut genug bin.«
Elevander legt mir eine Hand auf die Schulter. »Womit wir wieder bei dem Problem deines mangelnden Selbstbewusstseins wären.«
Daran wird sich so schnell auch nichts ändern. »Ich danke dir, dass du an mich glaubst. Vielleicht wärest du als Enkel meines Großvaters nicht gescheitert.«
»Du bist der Bessere von uns«, behauptet mein Freund. »Du wirst deinen Weg gehen. Daran kann der Große Zaubermeister dich nicht hindern. Möglicherweise erkennt er nicht, wozu du fähig bist. Ich allerdings weiß, dass du zu Großem berufen bist.«
Das plötzliche Kribbeln in meinem Nacken hat seinen Ursprung in Magie, die zu mir durchdringen will. Inzwischen bin ich geübt darin, meinen Schutzwall Oremazz gegenüber hinunterzufahren. Sofort weiß ich, welche Nachricht mein Großvater mir schicken möchte. Er winkt mich heran. Zeit für meinen großen Auftritt. Ich muss das Gespräch mit Elevander beenden, obwohl ich ihm zu gern dabei zuhöre, wie er meine Zukunft in leuchtenden Farben für mich malt. »Ich weiß deinen Versuch zu schätzen, mich aufzumuntern. Wenn du irgendwann meine aufbauenden Worte benötigst, werde ich sie parat haben.«
Sein Lächeln ist ein warmer Sonnenstrahl an meinem Hinterkopf, der durch Blätter dringt. »Du irrst dich, wenn du denkst, ich würde dir nur einschmeichelnde Komplimente zumurmeln. Ich weiß, dass du uns alle überraschen wirst und zu mehr in der Lage bist, als Oremazz dir zutraut. Wenn die Zeit gekommen ist, werde ich dafür sorgen, dass du dich nicht mehr hinter deinem Großvater versteckst. Ich werde dich daran erinnern, an dich zu glauben.«
»Lesithder! Gehst du endlich zu dem Ort, den ich dir gezeigt habe?« Oremazz schickt mir mit Hilfe von Magie einen bösen Blick.
»Ich mache mich gleich auf den Weg«, teile ich ihm durch Gedankenübertragung mit, bevor ich mich Elevander zuwende. »Das ist sehr nett von dir.«
»Erspare mir deine unnötige Dankbarkeit. Deine Zeit wird kommen. Ein Moment, in dem du allen Zweiflern beweist, wozu du wirklich fähig bist. Ich werde mich vor dich stellen und dich dabei unterstützen, wenn es sein muss.«
Tränen brennen in meinen Augen. Die Zuversicht, die in Elevanders Augen leuchtet, schnürt mir die Luft ab. Wie kann jemand an mich glauben, der mich so oft hat scheitern sehen?
Ich öffne den Mund für weitere Dankesworte, halte dann aber kopfschüttelnd inne. Es gibt nichts, was ich Elevander nicht schon mehrmals gesagt habe. Er kennt mich gut genug, um zu wissen, was in mir vorgeht.
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