1 ...7 8 9 11 12 13 ...18 Die aufbrandende Wut des Großen Zaubermeisters flirrt spürbar in der Luft. Als ich meine Arme senke, um die Verbindung zu dem Fremden zu lösen, versucht Oremazz, in meinen Verstand einzudringen. Er will mich dazu zwingen, ihn bei dieser grausamen Tat zu unterstützen. Das erste Mal in meinem Leben wehre ich mich gegen ihn. Dieses eine Mal bin ich stärker als er.
Die überschüssige Magie sucht einen Weg in meinen Körper. Da ich mein Schutzschild hochgefahren habe, überzieht mich die Kraft wie ein schweres Tuch. Sie drängt immer näher, drückt mir die Luft ab. Ich beginne zu zittern, kann dem Druck nur schwer widerstehen, den der Große Zaubermeister auf mich ausübt. Meine Haut beginnt zu prickeln. Elektrische Entladungen tanzen auf meinen Armen. Doch ich bleibe reglos und warte auf den Moment, in dem ich in tausend Stücke zerrissen werde, weil die Macht zu groß wird, um sie zurückzudrängen.
Tatsächlich wird das Beben meines Körpers stärker. Ich schwanke und muss mich an die Wand lehnen, um nicht zu fallen. Mein Herz rast. Ich schließe die Augen und warte auf das Ende, das mich zweifellos erwartet.
Noch einmal steigt die Kraft der Magie an, während ich mich dagegen wehre, benutzt zu werden. Schmerz rast durch meinen Körper, weil ich den Fähigkeiten meines Großvaters nichts entgegenzusetzen habe. Angst schnürt mir die Kehle zu. Jetzt ist es so weit. Jetzt werde ich sterben. Aber lieber das, als das Leben eines Unschuldigen in Gefahr zu bringen.
Plötzlich wird der Energiestrom schwächer. Ein Schauer durchläuft mich. Dann ist der Ansturm der Magie zu Ende.
Ist es vorbei? Bin ich gestorben? Oder hat Oremazz selbst den Zauber an dem armen Mann im Innenhof angewendet, um mir eine Lektion zu erteilen?
Ich reiße die Augen auf und sehe mich um.
Der Mann, den wir als Opfer ausgewählt haben, hat wieder beide Füße auf dem Boden. Sein Arm hängt an seiner Seite hinunter. Auf seinem Gesicht spiegeln sich Schock und Unverständnis. Doch er scheint unverletzt. Kann er sich inzwischen wieder bewegen? Er muss von hier fort. Wenn mein Großvater versuchen sollte, ihn direkt mit seiner Magie anzugreifen, hat der Bauer dem nichts entgegenzusetzen.
Oremazz wird meinen Wunsch, dem Mann zu helfen, nicht verstehen. Ich verschwende keine Zeit damit, ihn um Erlaubnis oder Gnade anzuflehen. Tatsächlich stelle ich nicht einmal eine Verbindung zu ihm her, um ihn nach seinen Plänen zu fragen. Ich trete aus dem Durchgang hervor, eile vorwärts und laufe auf den Mann zu, der von dem, was mit ihm geschehen ist, immer noch verwirrt scheint.
»Verschwinde!«, rufe ich. »Weg hier!«
Der Mann wendet sich mir zu, völliges Unverständnis im Blick. So einfach wird er es mir nicht machen, ihn vor weiterem Unheil zu bewahren.
Ich wedle mit den Armen, als versuche ich einen Schwarm Flugechsen zu vertreiben. »Du solltest dir irgendwo anders eine Aufgabe suchen«, befehle ich. »Sofort.«
»Aber die Tonne …« Verwirrt bricht er ab.
»Willst du noch einmal bewegungsunfähig sein?«, brülle ich. »Lauf endlich!«
Der Ausdruck in den Augen des Mannes verändert sich. Der Schock scheint endlich nachzulassen. Verspätet wird ihm bewusst, was gerade passiert ist. Er stolpert rückwärts und läuft schließlich los. Erleichtert bleibe ich stehen.
Hinter mir nähern sich Schritte. »Wie konntest du nur?«, beschwert sich mein Großvater. »Was sollte das?«
»Ich weiß, dass ich noch einiges zu lernen habe. Das bedeutet aber nicht, dass ich jemanden verletzen werde.« Vermutlich klinge ich nicht so selbstsicher dabei, wie ich gerne würde. Dennoch drehe ich mich um und sehe Oremazz entgegen.
»Wie sollen wir üben, unsere Feinde außer Gefecht zu setzen, wenn du zögerst, die notwendigen Versuche zu machen?«
»Das war keine harmlose Übung, Großvater. Das war ein hinterhältiger Überfall auf jemanden, der nicht zu den Bösen zählt. Ich kann so etwas nicht tun.«
»Schwächling.« Das Gesicht des Großen Zaubermeisters verzieht sich voller Abscheu. »Wieso ist das Schicksal bloß der Meinung, du würdest für den Sieg gegen unseren Feind notwendig sein? Weshalb ist die Zukunft unseres Volkes nur untrennbar mit deinen Fähigkeiten verknüpft?«
Diese Frage habe ich mir in den letzten zwei Jahren unzählige Male gestellt, ohne eine Antwort zu finden. Wenn mein Großvater in der Lage wäre, mir einen Grund mitzuteilen, könnte ich vielleicht daran glauben, dass er sich nicht geirrt hat. Wenn es eine Erklärung gäbe, weshalb ausgerechnet ich durch die Vision meines Großvaters mit dieser Aufgabe beauftragt worden bin, würde ich mich vielleicht damit abfinden können, unangenehme Dinge zu tun. Doch solange man mir unablässig unter die Nase reibt, nicht gut genug zu sein, werde ich mich innerlich gegen die Vorstellung zur Wehr setzen.
Verärgert schüttelt Oremazz den Kopf. »Immer wieder enttäuschst du mich. Ich bin es leid, dich Dinge zu lehren, die du nicht verstehst. Deine Eltern würden sich für dich schämen.«
Ich habe keine Erinnerung an meine Eltern. Sie sind gestorben, als ich noch klein war. Mein Großvater hat mir auch nichts über meine Eltern erzählt. Ich besitze nichts, was ihnen gehört hat: kein Bild, kein Andenken, einfach nichts. Tatsächlich habe ich keine persönlichen Gegenstände mehr aus der Zeit, die ich mit ihnen verbracht habe. Solange ich denken kann, habe ich immer im Haus von Elevanders Eltern gewohnt und mir das Schlafzimmer mit ihm geteilt. Auch wenn seine Mutter sich bemüht hat, mir in ihrem Zuhause ein Heim zu bieten, habe ich mich immer fremd gefühlt. Mir hat etwas gefehlt, das ich nicht näher benennen kann. Wie sollte ich auch? Ich kenne nichts anderes. Eigenen Besitz habe ich nicht angesammelt. Die Souvenirs, die ich mir ersehnt habe, waren verloren, weil mein Großvater sie vernichtet hat.
Welche Art von Menschen meine Eltern waren, weiß ich nicht. War mein Vater ein großer Zauberer? Hatte meine Mutter ein Faible für Magie oder war sie eine Nichtzauberin? Ich kann sie nicht einschätzen, habe kein Gefühl für das, was sie bewegt hat. Deshalb weiß ich auch nicht, ob ich ihnen ähnlich bin, ob sie stolz auf mich waren, ob ich mich so entwickelt habe, wie sie es sich gewünscht haben. Der Gedanke, dass sie mich als Schande für unsere Familie empfinden könnten, schmerzt.
»Du bist ein Versager«, zischt mein Großvater. »Womit habe ich einen Klotz am Bein wie dich verdient?«
»Aber …«
»Geh mir aus den Augen. Versch…« Plötzlich verstummt er. Seine Stirn runzelt sich und er fasst sich an seine Brust.
So schlimm ist mein Versagen nicht gewesen. Misstrauisch beobachte ich, wie sein Gesicht an Farbe verliert. »Was ist los?«
»Ich …« Er schwankt, streckt die Hände nach mir aus.
Automatisch greife ich danach, um ihn aufrechtzuerhalten. Mein Argwohn hat sich in Rauch aufgelöst. Meine Sorge hingegen wächst ins Unermessliche.
Oremazz’ Hand rutscht aus meiner. Noch einmal torkelt er. Dann fällt er zu Boden. Seine Miene verzieht sich zu einer Grimasse, als hätte ihn etwas furchtbar erschreckt. Er wird noch eine Spur blasser, stöhnt leise. Seine Augen schließen sich flatternd, und er erschlafft. Auch seine Atmung verändert sich, sie wird flacher, gleichmäßiger. Er ist ohnmächtig.
Angst legt einen Eisenring um meine Brust. Was geschieht mit ihm? Woher kommt dieser Anfall? Wie kann ich ihm helfen?
Ich sehe mich um. Die Menschen im Schlossinnenhof beobachten uns mit schreckgeweiteten Augen. Niemand wagt sich an uns heran. Ich muss diese Situation allein bewältigen.
Die Aura von Elevander nähert sich. Ich kann spüren, dass er auf uns zuläuft. Auch wenn ich befürchten muss, dass er nichts tun kann, um meinen Großvater von seiner seltsamen Krankheit zu retten, schenkt mir seine Gegenwart ein Gefühl von Vertrauen, dass alles gut werden wird.
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