Die Besatzung am Tresen feixte und wechselte vieldeutige Blicke, als BRB mit verspannter Miene zum Tisch zurückkehrte.
»Dir scheint es richtig gut zu gehen, mein Lieber.«
»Ja«, erwiderte BRB. »Da kann ich wirklich nicht klagen!«
»Hast du dich denn beruflich gut eingelebt?«, fragte BRB sein Gegenüber.
»Bin ganz zufrieden. Wir haben es ja noch richtig gelernt. Einmal Fuß gefasst, kommst du überall klar.«
Torsten Tengler, der in seinen Kreisen Torte genannt wurde, stammte aus der Nachbarschaft, früher in Brandenburg/Havel. Die Kinder spielten und rauften zusammen. Es gab da einen Spielplatz neben der Franz-Ziegler-Straße, wo Bäcker Suchalski sein Geschäft hatte, mit Wippe und Klettergerüst, am Rande eine riesige Trauerweide, die nach stürmischem Wetter ihr zerzaustes Haar wieder glättete. Sie überragte alles und ihre gewaltige Größe wirkte wie ein Garantieversprechen: Euren Kindern passiert nichts. Lasst sie nur bei mir spielen. Ich passe auf. Das war in den 50er- und 60er-Jahren. Aus dieser Zeit kannten sich BRB und Torte schon. Sie hatten sich dann aus den Augen verloren. Das Medizinstudium des einen in Rostock und die Polizeilaufbahn des anderen passten nicht mehr zusammen. Doch jetzt schien sich ein Kreis zu schließen.
»Hab es nicht bereut, nach Rostock gekommen zu sein, obwohl es ein tiefer Einschnitt war. Einen alten Baum soll man ja nicht verpflanzen!«
»Der alte Baum darf aber gegossen werden«, fiel ihm BRB ins Wort. »Noch zwei Bier bitte«, rief er zum Tresen und die Kellnerin nickte kurz.
»Ich wollte vor allem die Ostseenähe haben«, begann Torsten Tengler zu schwärmen und sein Blick verlor sich kurz in einer seligen Fantasie.
»Kann ich gut verstehen«, sagte Brandenburg. »Du oder ihr seid ja mit dem Kajak viel auf dem Wasser, oder habt ihr zwei? Jeder in seinem? Ich sehe öfter mal ältere Ehepaare, die mit zwei Booten fahren. Meine Frau und ich kajaken auch.«
»Sag bloß. Wir sind bestimmt schon 15 Jahre fast jeden Sommerurlaub irgendwo mit dem Kajak unterwegs«, schwärmte Torsten Tengler weiter. »Wir haben einen Zweier und einen Einer. Mit dem Einer fahre ich auch gern mal allein los. Ich-Zeiten sind wichtig, sollte man sich in einer Beziehung gegenseitig gönnen.«
»Da sagst du was. Ich gehe Geocachen, am liebsten die T5er, hoch auf die Bäume.«
»Was bedeutet T5?«
»Das ist der technisch höchste Schwierigkeitsgrad für das Terrain, nicht um einen Cache zu orten, sondern um ihn zu erreichen. Eine Klettertour bekommt dann immer die höchste T-Wertung.«
»So hat jeder seins«, entgegnete ihm Torte lächelnd.
»Du bist ja gleich im Rostocker Fachkommissariat 1 der Kriminalpolizeiinspektion gelandet«, stellte BRB fest. »Warst du vorher in Potsdam auch im FK 1?«
»Ja, erst zwei Jahre Arbeitsunfälle und dann zu den schweren Körperverletzungen und Tötungsdelikten. Das war immer meins. Und was wurde deins?«
»Ich habe in Rostock studiert und bin da hängen geblieben. Zur Wende hatte ich einen unbefristeten Arbeitsvertrag und da ich politisch nicht belastet war, hat mir die Ehrenkommission der Uni einen Persilschein ausgestellt.«
»Wenn du nicht belastet warst, brauchte es wohl kein Persil, oder?«
»Ja, hast recht. Mir fiel der Begriff eben nur ein, weil mein Großvater nach dem Krieg auch so einen Zettel bekam. Damals sagte man so. Der sieht meinem recht ähnlich.« »Geschichte wiederholt sich eben.«
Mit diesem Satz in Wort und Sinn belächelten beide ihr Jetzt und waren so vertieft, dass sie nicht bemerkten, wie zwei Tische weiter ein einzelner Mann aufstand, dem Kellner einen Betrag zusteckte, sich seinen Mantel überwarf und betont langsam zunächst an ihrem Tisch und dann am Tresen vorbei zur großen Glastür ging, die den Gastraum vom Eingangsbereich und Flur abtrennte. Die Klinke in der Hand drehte er sich nochmal zu den beiden Freunden, verharrte einen Moment und ging dann. Dabei schlug er sich den Kragen hoch, ruckelte sich die Ärmel zurecht, klopfte auf die Seitentaschen, um den Inhalt zu prüfen und trat vor die Tür. Er überquerte die Straße mit dem alten Kopfsteinpflaster. Seine Kontur verlor sich im Dunkel der Bäume des Bad Doberaner Kamps. All das geschah von BRB und seinem alten Freund völlig unbeachtet.
»Dann hattest du ja eine geradlinige, typische Ossi-Karriere. 40 Jahre auf einer Arbeitsstelle. Respekt«, sagte Torsten Tengler. »Übrigens – mir kam es damals nie komisch vor, dass du so heißt wie unsere Heimatstadt«, stellte er fest. »Nach all den Jahren fällt es mir jetzt erst auf.«
Beide lachten.
»Nun, bei mir lief es etwas holpriger«, erzählte Torsten Tengler weiter. »Da gab es einige Dienststellen mehr, noch vor der Potsdamer Zeit. Hing auch mit der Familie zusammen. Bin einmal geschieden und jetzt das zweite Mal verheiratet. Kind aus erster Ehe. Ging alles nicht so glatt.« Tenglers Blick bohrte sich dabei schwer zu beschreiben in den von Brandenburg, der das registrierte.
»Ja … Du … Is wie is. Mein Weg war glatt und vorgezeichnet. Es ergab sich eben alles so. Gerichtsmedizin oder Rechtsmedizin, wie es nach der Wende hieß, war und ist im Wesentlichen an Universitäten gebunden. Eine ärztliche Niederlassung wie beim Allgemeinmediziner war nicht möglich. Ich bin aber ganz froh. Als Gehaltsempfänger ging und geht es mir nicht so schlecht. Du hattest doch als Beamter eigentlich auch immer deine Sicherheiten, oder?«, gab Brandenburg zurück.
Tengler schwieg einen Moment. »Sicher, ich hatte Sicherheiten. Finanzielle Sicherheiten. Mit einem Gefühl von Sicherheit hat meine tägliche Arbeit aber nichts zu tun. Da geht manchmal nicht alles so glatt, wie ich vorhin schon sagte.«
Brandenburg hakte nicht nach, weil er den Eindruck bekam, dass sein alter Freund so einiges in sich trug, was jetzt nicht unbedingt auf den Tisch sollte. Der Abend lief dann langsam aus, sodass beide in völlig unbedenklichem Zustand dem frühen Aufstehen am nächsten Tag optimistisch entgegensehen konnten.
Kapitel 2
Das Fachkommissariat 1
Kommissar Tengler hatte das Abc der Polizeiarbeit gelernt. Das merkten seine Kolleginnen und Kollegen schnell. Seine Routine, die er sich über viele Jahre im Polizeidienst erworben hatte, war tief ausgeprägt. Er brauchte keine lange Anlaufzeit. Es war auch der »Stallgeruch«, der ihm schon am ersten Tag das Gefühl gab, hierbleiben zu können. Und bald war er nicht mehr wegzudenken. Es lief. Dass er sich zuvor in Schwerin beworben hatte, wusste kaum jemand. Das musste auch nicht breitgetreten werden. Die Stelle dort war von Kommissar Berger besetzt, der mit einem Kollegen Paulsen ein gut eingespieltes Duo bildete. So hatte er gehört. Kennengelernt hatte er beide persönlich bisher nicht.
Tengler sah gerade die Akte zweier Vermisstenfälle durch, die über das Kriminalkommissariat zur Bearbeitung in das FK1 gekommen waren. Es hatten sich Verdachtsmomente auf Fremdeinwirkungen ergeben. Er vertiefte sich in die erkennungsdienstlich brauchbaren Angaben. Nur für den Fall, dass es zum Auffinden der Personen kommen sollte. Während er kurz aufsah und seinen Blick aus dem Fenster schweifen ließ, klingelte das Telefon. »Tengler.«
»Semlock. Ich grüße Sie.«
»Ist es nun die Tochter oder die Mutter?«, charmierte er in den Hörer. »Ich kann beide nicht auseinanderhalten.«
»Und wie wäre es, wenn wir Ihnen gegenüberstehen würden?«
»Dann ist es ganz aus. Keine Chance.« Beide lachten herzlich.
»Lieber Herr Tengler, wo haben Sie das nur gelernt. Sie schaffen es, mir im Handumdrehen die Stimmung aufzuhellen.«
»Reiner Reflex«, gab er zurück.
»Sie erwähnen immer noch meine Tochter«, spitzelte sie ihm zu. »Dabei hat sie doch als Medizinerin nur ein kurzes Praktikum bei uns absolviert, weil sie sich überlegt, in der Rechtsmedizin ihre Facharztausbildung zu beginnen. Sie sah wohl einen interessanten Brückenschlag zwischen der Blutspurenanalyse der Rechtsmediziner und der Kriminaltechnik. Muss mich das beunruhigen?«
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