Am Morgen fand ich in einem gepflegten Frühstücksraum eine Mahlzeit vor, an die ich noch während der gesamten Reise durch die Ukraine dachte. Danach packte ich zusammen und wollte weiterziehen. An der Pforte winkte mir der Pförtner zu, der in der Nacht schon Dienst gehabt hatte. Natürlich hatte er noch viele Fragen, die ich aber gerne mit ihm besprach. Es konnte mir nichts Besseres passieren, als mich mit jemandem zu unterhalten, der mir etwas über Land und Leute auf Deutsch erzählen konnte. Erst um 10.30 Uhr kam ich von Nicolai, dem Wachmann, los. War mir aber egal, da ich dank der langen Tour am Vortag ja schon ein ordentliches Stück weit in der Ukraine war. Ob es auf der Straße wie am Abend zuvor so weiterging, interessierte mich mehr.
Das war allerdings zu meiner Erleichterung nicht so. Schon nach 15 km änderte sich alles wieder schlagartig. Die Straßen waren überwiegend okay, obwohl ich diesbezüglich auch schon große Abstriche gemacht hatte. Die Städtchen und Dörfer wurden wieder ansehnlicher, und man hatte den Eindruck, dass hier ein anderer Teil der Ukraine begonnen hatte. Auffallend war aber schon seit Überschreiten der Grenze, dass ich sehr viele Männer schon tagsüber betrunken durch die Gegend taumeln sah, ein Problem in dem Land, das mir auch während der letzten Etappe vor Kiew von einer Bekannten bestätigt wurde.
Nun führte mich mein Weg wieder ziemlich geradlinig in Richtung Osten, denn mein nächstes, größeres Etappenziel hieß Kiew. Mein Plan war eigentlich, am Schwarzen Meer entlang, über die Krim, nach Sotschi und dann nach Georgien zu fahren. Da die politische Lage auf der Krim zu dem Zeitpunkt aber sehr unsicher war, wollte ich zuerst nach Kiew, um mir dort auf der deutschen Botschaft Informationen zu holen, ob die Durchfahrt über die Krim überhaupt möglich war. Außerdem hatte ich eh vor, die Hauptstädte der einzelnen Länder, die ich durchfuhr, zu besuchen.
Diese Entscheidung war richtig, wie sich im Kapitel Georgien herausstellen sollte.
Nachdem ich die Karpaten, die im Norden langsam auslaufen, überquert hatte, wurde die Strecke wieder etwas ebener. Lange und breite Felder lagen vor mir, die ebenso lange, gerade Straßen durchquerten. Die riesigen Felder, die die unsrigen in Deutschland wie Kleingärten erscheinen lassen, waren alle gut bestellt. Da das Frühjahr erst begann, war die „Schwarzerde“, die als die fruchtbarste Erde der Welt bezeichnet wird, auf weiten Flächen gut zu erkennen. Landmaschinen mit riesigen Auslegern düngten und säten. Das Wetter war mir hold, und so fuhr ich durch eine herrliche Landschaft meine Tagestouren um die 100 km.
Die Übernachtungsmöglichkeiten machten mir abends öfter zu schaffen, es gab sehr wenige. Nur in größeren Städten fand ich mühelos Unterkunft. Zunehmend hatte ich jetzt auch Kontakt zu Ukrainern, da diese Gegend offensichtlich nicht unbedingt ein Touristenziel war und ich mit meinem bepackten Rad doch die Neugier der Menschen weckte. Die Verständigung war natürlich ein Problem, und ich schätzte das Bildungsniveau auf dem Land als nicht sehr hoch ein.
Hin und wieder begegnete ich aber auch Leuten, die mich überraschten. An einem Tag traf ich auf drei junge, sportlich gekleidete Ukrainer, die ebenfalls mit dem Rad unterwegs in die nächste Stadt waren. Die junge Frau, die dabei war, studierte tatsächlich Deutsch und hatte sichtlich Spaß daran, es anzuwenden. Ich hatte Zeit und nahm mir diese gerne bei solchen Begegnungen. Auch abends war es nicht immer uninteressant. An einem Abend fand ich spät noch ein Zimmer, weit ab von meiner Route, in einem wirklich sehr kleinen Dorf. Eine Straße dorthin gab es nicht, nur einen sehr ausgefahrenen Feldweg, der mit Schotter, alten Dachziegeln und Backsteinen ausgebessert war. Das Dorf bestand aus ca. 15 kleineren Landwirtschaftsgebäuden und Häusern. Eines davon beherbergte einen Arzt, der eine kleine Praxis unterhielt, die er mir auch stolz präsentierte. Sein Spezialgebiet war, Menschen von Suchtproblemen aller Art zu heilen, hauptsächlich aber vom Alkohol, und er setzte dabei auf die Therapie der Darmspülung.
Ich versicherte ihm sehr schnell, dass ich null Probleme mit irgendeiner Art von Sucht habe. So kam ich um eine angebotene Anwendung herum.
Die Zimmer, die er zur Aufbesserung seines Lebensstandards vermietete, waren selbstgebastelt im Dachspitz des Hauses. Die Feuchtigkeit, die darin herrschte, war vermutlich der Grund für den modrigen Geruch, der mich auch veranlasste, einen sehr langen, ausgedehnten Spaziergang durch und um das Dorf zu machen. Dabei konnte ich einen ordentlichen Einblick in das einfache, schon fast primitive Leben der ukrainischen Landbevölkerung erlangen. Oft kopfschüttelnd und auch nachdenklich nahm ich zur Kenntnis, mit was sich diese Leute zufrieden geben und geben müssen, im Gegensatz zu unserer Welt, in der oft das Beste nicht mehr gut genug ist.
Spät abends legte ich mich in mein übel riechendes Bett und schlief ein. Mein letzter Gedanke war, was hier wohl zum Frühstück gereicht werden würde, das im Zimmerpreis von umgerechnet 8 Euro inbegriffen war.
Am Morgen machte mir die Frau des Hauses ein Frühstück, das aus einem süßlichen Brei, zwei Scheiben Brot und einer undefinierbaren, gelben Marmelade bestand. Den Doktor traf ich an dem Morgen nicht mehr, da er bereits seinen ersten Patienten versorgte. Bei dieser Zeremonie wollte ich ihn keinesfalls stören, ich schwang mich wieder auf mein Rad und strampelte in Richtung Schytomyr, wo ich bei einer Bekannten den ersten Besuch auf meiner Strecke machen wollte. Bekannte ist vielleicht etwas übertrieben, sie ist die Schwester einer Bekannten, die ich aus Deutschland kenne. Inna ist in Deutschland bei ihren ukrainischen Eltern aufgewachsen und zog, nachdem sie 18 geworden war, wieder zurück in die Ukraine. Inna ist bewundernswert, schon alleine deshalb, weil sie ein relativ sorgenfreies Leben in Deutschland aufgegeben hatte, um sich jetzt für einen sehr kleinen Lohn in einer sozialen Organisation, die von Spendengeldern lebt, um Familien zu kümmern, in denen der Vater dem Alkohol verfallen ist.
Schytomyr liegt etwa 140 km vor Kiew und ist eine beachtliche Stadt. Hier machte ich einen Treffpunkt bei einem amerikanischen Fast-Food-Restaurant mit Inna klar, weil ich dort auch WLAN hatte, sollte irgendetwas dazwischenkommen.
Ich war pünktlich am Treffpunkt, und Inna kam mit etwas Verspätung an. Nachdem sie mich in ihr Zimmer in der Mission gefahren hatte, das sie vor zwei Tagen noch selbst bewohnt hatte, machten wir uns gleich auf den Weg ins Zentrum. Die Stadt hatte einiges zu bieten, und ich war froh, eine so gute deutschsprachige Fremdenführerin zu haben. Ich erfuhr einiges über Land und Leute, über Verdienst, Miete und sonstige Kosten, die im täglichen Leben auf diese Leute zukommen, während wir zu Fuß ein Kloster, den Campus und eine Einkaufsmeile besuchten. Aus Inna sprudelte es wie aus einem Wasserfall, und ich hatte meine Mühe, so viel Input in meinem Kopf zu speichern.
Alles machte auf mich einen recht ordentlichen Eindruck, wenngleich es für mich unverständlich ist, wieso Inna dieses bescheidene Leben dem in Deutschland vorzog. Sie erklärte mir, dass sie diesem Land wie verfallen sei und ihre Arbeit als Sozialarbeiterin liebe. Das war für mich sehr beeindruckend. Das Leben in der Ukraine erschien mir alles andere als leicht, und Inna ist mit sehr viel weniger zufrieden als alle, die ich kenne.
Schließlich war es dunkel und auch Zeit zu essen. Meinem Wunsch entsprechend gingen wir in ein Restaurant, wo ausschließlich ukrainische Spezialitäten serviert wurden. Dies musste ich Inna nicht zweimal sagen, da sie natürlich so gerne ukrainisch isst, wie sie ihr Land liebt.
Die Speisen, die von Inna als Kennerin bestellt und aufgefahren wurden, kannte ich alle allesamt nicht, sie schmeckten aber hervorragend. Die Rechnung übernahm ich, für Inna viel Geld, mich dagegen brachte sie eher zum Schmunzeln. Nicht weil ich reich bin oder nicht aufs Geld schauen musste, nein, es war der kleine Betrag, den ich für erstklassiges Essen und Service bezahlen musste.
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