Mine-dine-use* Mine-dine-use* Ann-Cristin Ney *plattdeutsch: Patchworkfamilie Ich strickte für meine drei Töchter in meinem Leib Jacken für den Winter, damit sie keine Zündhölzer anzünden und Maronen für ihre kalten Hände kaufen müssten. Für die Erste strickte ich aus der schönsten Wolle, die ich auf dem Dachboden finden konnte, eine warme Jacke, die ihre Wangen rosig und ihre Lippen rot machten. Für ihre Schönheit würde sie stadtbekannt werden und es würde ihr alles in den Schoß fallen. Von Freundschaft, Liebe bis hin zu den Äpfeln aus Nachbars Garten. Er war im Krieg, musst Du wissen. Die Frauen erschoss er am liebsten mit Genickschuss. Dein Vater kam in der Nacht. Er war der Jäger. Das Blut an seinen Händen kam vom Zerwirken. Er schlug mich aus der Decke. Für die zweite Tochter strickte ich aus Honiggelb und Korngelb einen Mantel, der sie so strahlen ließ, wie die Sonne. Du warst wie Dein Vater – er kam am Mittag. Jeder mochte ihn, war er doch herzlich, warm, und als Du jedem Deine Wärme abgegeben hattest, starbst Du mit maisgelben Zähnen. Für meine letzte Tochter, für die ich fast am Kindbett starb, für sie nähte ich ein Mantel aus den stärksten Leinen und legte sie auf ihre knochigen Schultern. Sie war die Ärmste von allen. Kam ihr Vater am Abend von der Arbeit zu uns ins Bett. Ich betete drei Rosenkränze und eine Bibel, dass Daddy mich heute Abend nicht besuchen kommt. Ich betete, dass mein Kinderzimmer ein Krankenhaus war – die Besuchszeiten schon längst vorbei. Und als ich in ihre pechschwarzen Augen sah, so wusste ich, dass sie die Ärmste von allen sein wird, denn schwach sein ist ein Luxus, der ihr in diesem Leben nicht vergönnt sein wird. Ich legte ihr den Mantel um, bevor ich ihr die Augen schloss und tiefstem Schnee davon ging. Wir lassen den Sarg auf. Ich möchte keine Lilien als Sargschmuck. Wird es in meinem Herzen nie wieder Frühling. Tränen fallen wie das Laub von den Bäumen im Herbst. Im Sommer gehen wir wieder ins Freibad, ja.
Tempo Tempo Susanne Speth Menschenskind. Immer diese alten Frauen in der Schlange. Um die Kasse zu blockieren. Mit voller Absicht möchte man meinen. Schließlich könnten sie auch in der Mittagszeit einkaufen. Oder besser Home Service. Die kommen in der modernen Welt sowieso nicht mehr zurecht. Werden alle Nase lang umgemöbelt von Fahrrädern, Scootern oder was weiß ich. Also daheimbleiben, schön fernsehgucken und auf den Enkeltrick reinfallen. Das war jetzt nicht freundlich. Aber zu mir ist auch keiner nett. Und in zehn Minuten geht die Bahn. Aber nein, einkaufen um 18 Uhr. Genau dann, wenn die arbeitende Bevölkerung zackzack ihre Sachen erledigt. »Könnten Sie bitte mit dem Kleingeld helfen? Die Augen. Oh, das Wiegen hab' ich vergessen, tut mir leid.« Und dann endloses Verkramen von Katzenfutter, Margarine und Hakle-Feucht in der übergroßen Tasche. Die Kassiererin ist gefasst. Gute Schulung. Das hier ist Minuten-Akkord. Deshalb wurden die großen Ablagen für den Einkauf extra abgeschafft an den Kassen. Alte Männer sehe ich nicht so oft beim Einkaufen. Meistens sind das die Ungewaschenen mit den Pfandflaschen. Essen alte Männer nicht mehr? Nur noch saufen? Oder sind das die Ehemänner der Blockade-Frauen? Kriegen das Essen seit 50 Jahren von der Frau hingestellt. Kommt sie nicht zurück, flott erwischt vom E-Bike, fallen sie einfach irgendwann tot vom Stuhl. Dieser Generation ist nicht mehr zu helfen. Meiner müsste mir mal so kommen. Alte Männer sterben früher. Sie können also gar nicht massenhaft Zonen und Schalter besetzen. Das machen die Witwen. Sie zwingen den Rest der Welt in die Zeitlupe. Wie soll das erst in ein paar Jahren werden? 70 % Alte, 20 % Pfleger, 10 % unter vierzig. Einfach erschießen geht nicht. Das leuchtet mir ein. Aber irgendwas muss sich irgendwer ausdenken. Sonst wird irgendwann die Ungeduld übermächtig, das kann ich Euch sagen. »Ich glaube, Sie sind dran, junge Frau.« Die Omma hinter mir. Frech, oder? Jürgen hat nur kurz gesimst wegen der Chips.
Vaters Fest
Hätte ich dich gekannt ...
Ferragosto in Altamura
Sanfte Wellen
Und ich weiß
Pistazien und so
Schöne Neue Welt
Die Macht der Gewohnheit
Sieben Minuten
Vaterliebe
Im Zug
Abschied
Eisblumen
Flakhelfer
Reise zurück
Heather
Wiedergutmachung
Oma, ich habe viele Fragen
Winter
Auf einem Hof im Hinterland
Eine Generation ist kein Gendefekt
Wenn die Goldenen Zwanziger enden
Aus dem Rahmen
Es ist wieder Frühling
Mine-Dine-Use
und andere Geschichten
Buchbeschreibung:
Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten
Der zweite Band aus der Ausschreibung Generationen des Baltrum Verlages.
Mine-Diese-Use ist ein plattdeutscher Begriff für eine Patchworkfamilie. Hier erleben Sie einzelnen Geschichten aus den Spannungsfeldern der Generationen, zusammengefügt wie eine Patchworkfamilie, ein Buch mit nachdenklichen Geschichten, aber auch mit Humor.
Über den Autor:
In dieser Anthologie haben wir Autor*innen, die eine komplette Generation abbilden. Die einen beschreiben ihre Sicht auf ein Leben, auf das die anderen schon zurückblicken.
Impressum
© 2021 Baltrum Verlag GbR
BV 2132 – Mine-Dine-Use und andere Generationengeschichten
Umschlaggestaltung: Baltrum Verlag GbR
Illustration: Baltrum Verlag GbR
Lektorat, Korrektorat: Baltrum Verlag GbR
Herausgeber: Baltrum Verlag GbR
Verlag: Baltrum Verlag GbR, Weststraße 5, 67454 Haßloch
Internet: www.baltrum-verlag.de
E-Mail an info@baltrum-verlag.de
Druck: epubli – ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.deabrufbar.
Mine-Dine-Use
und andere Generationengeschichten
Von Herausgeber
Carsten Böhn und Matthias Deigner
Baltrum Verlag
Weststraße 5
67454 Haßloch
Mine-dine-use*
Ann-Cristin Ney
*plattdeutsch: Patchworkfamilie
Ich strickte für meine drei Töchter in meinem Leib Jacken für den Winter, damit sie keine Zündhölzer anzünden und Maronen für ihre kalten Hände kaufen müssten.
Für die Erste strickte ich aus der schönsten Wolle, die ich auf dem Dachboden finden konnte, eine warme Jacke, die ihre Wangen rosig und ihre Lippen rot machten. Für ihre Schönheit würde sie stadtbekannt werden und es würde ihr alles in den Schoß fallen. Von Freundschaft, Liebe bis hin zu den Äpfeln aus Nachbars Garten. Er war im Krieg, musst Du wissen. Die Frauen erschoss er am liebsten mit Genickschuss.
Dein Vater kam in der Nacht. Er war der Jäger. Das Blut an seinen Händen kam vom Zerwirken. Er schlug mich aus der Decke.
Für die zweite Tochter strickte ich aus Honiggelb und Korngelb einen Mantel, der sie so strahlen ließ, wie die Sonne. Du warst wie Dein Vater – er kam am Mittag.
Jeder mochte ihn, war er doch herzlich, warm, und als Du jedem Deine Wärme abgegeben hattest, starbst Du mit maisgelben Zähnen.
Für meine letzte Tochter, für die ich fast am Kindbett starb, für sie nähte ich ein Mantel aus den stärksten Leinen und legte sie auf ihre knochigen Schultern.
Sie war die Ärmste von allen. Kam ihr Vater am Abend von der Arbeit zu uns ins Bett. Ich betete drei Rosenkränze und eine Bibel, dass Daddy mich heute Abend nicht besuchen kommt. Ich betete, dass mein Kinderzimmer ein Krankenhaus war – die Besuchszeiten schon längst vorbei. Und als ich in ihre pechschwarzen Augen sah, so wusste ich, dass sie die Ärmste von allen sein wird, denn schwach sein ist ein Luxus, der ihr in diesem Leben nicht vergönnt sein wird. Ich legte ihr den Mantel um, bevor ich ihr die Augen schloss und tiefstem Schnee davon ging.
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