Ja und dann war es schon wieder so weit. Inna fuhr mich noch zu meinem Zimmer, und wir verabschiedeten uns. Ich hatte am nächsten Tag eine lange Strecke vor mir, da ich Kiew erreichen wollte.
Am Morgen erwartete mich herrliches Wetter mit leichtem Gegenwind. Die Strecke hatte nicht sehr viele Höhenmeter, aber dennoch lagen 140 km vor mir. Die Straße war sehr gut, glich eigentlich einer Autobahn, und auf dem breiten Seitenstreifen kam ich relativ gefahrlos gut voran. Am Spätnachmittag tauchte dann Kiew auf, das ich schon von weitem sehen konnte. Leider kam ich aber in den Feierabendverkehr, der stadtein- und stadtauswärts gleich stark war. Baustellen und Sperrungen machten die Durchfahrt zu einem kleinen Kunststück, doch die Autofahrer nahmen sehr viel Rücksicht auf mich und mein Gefährt. Meine Unterkunft, die ich gebucht hatte, lag vom Ortsschild noch ein ganz schönes Stück entfernt, und so zeigte mein Tacho 155 km, als ich die Satteltaschen abschnallte. Stolz und müde bezog ich mein Zimmer für drei Nächte in Kiew, nach mittlerweile 2364 gefahrenen Kilometern. Diese Pause konnte ich mir jetzt wirklich gönnen, da ich einen Tagesschnitt von 100 km hatte und eigentlich von 60 km ausgegangen war.
Allerdings war es bis hierher grenztechnisch noch sehr moderat abgegangen. Sorgen machte mir dagegen der nächste Grenzübergang. Ich befand mich immerhin in einem Land, in dem gerade Krieg herrschte. Dieser Gedanke begleitete mich schon einige Tage, spätestens seit dem Tag, als mich auf einer parallel zur Straße verlaufenden Bahnlinie ein sehr langer Zug, beladen mit Panzern und sonstigen Armeefahrzeugen, in Richtung Osten überholte. Ich war keine 700 km vom Krisengebiet Donezk und der Krim entfernt.
Der nächste Tag sollte etwas mehr Licht ins Dunkel bringen. Bei Sonnenschein und angenehmen Temperaturen lief ich die 5 km ins Zentrum der Stadt, um mir bei der deutschen Botschaft Informationen zu holen. Dort sprach ich mit einem deutschen Angestellten vor der Tür über mein Vorhaben, über die Krim zu reisen. Hinein durfte ich in das schwer bewachte und überwachte Gebäude nicht. Der Beamte erklärte mir nach einem Telefonat mit einem Bekannten, der in der Nähe der Krim Dienst tat, dass es sich so verhalte: Ich könne es probieren, über die Krim nach Sotschi zu fahren. Zu 50 % würde es klappen. Da die Krim aber von Russen besetzt sei, wäre es möglich, dass diese mich stoppten und nicht durchließen. Wenn ich dann zurückfahren müsse, würden die Ukrainer mir einen illegalen Ausreise- oder Einreiseversuch unterstellen. Dies würde mit Gefängnis oder Ausweisung bestraft werden.
Mit dieser Information, die sehr wachsweich war, stand ich nun da. Mach ich es, oder mach ich es nicht? Meine Entscheidung hatte noch ein paar Tage Zeit. Für mich war es aber belastend, da ich nicht gerne planlos unterwegs bin.
Sicher war, dass ich von Kiew aus noch drei Tagestouren in Richtung Odessa hatte, dann musste die Entscheidung fallen. Plan B war, geradeaus nach Odessa zu fahren, um von dort aus mit der Fähre nach Georgien überzusetzen. Also, dachte ich, genieß jetzt die zwei freien Tage und schau dir die Stadt Kiew genauer an, und das war gut.
Kiew hatte gar nichts mit dem Leben auf dem Land zu tun. Es gab schöne Plätze, Kirchen und feine Gastronomie. Am zentral gelegenen Platz der Unabhängigkeit pulsierte das Leben, wie in jeder großen Metropole in Europa. Von Entbehrung oder Angst wegen des Kriegs war hier nichts zu spüren.
Der 2. Tag galt der näheren Umgebung meiner Unterkunft, und auch hier in der Vorstadt war alles im grünen Bereich. Der Versuch, in einem Einkaufszentrum eine Sonnencreme für meine geschundene Nase zu bekommen, scheiterte jedoch kläglich. Ich vermutete aber, es lag nicht daran, dass es keine gab, sondern an meinen Sprachschwierigkeiten.
So sattelte ich also am Morgen des 29. 4. 2019 wieder mein Rad und fuhr los in Richtung Odessa. Die nächsten zwei Tage waren nicht besonders anstrengend, da ich wieder weites und relativ ebenes Ackerland vor mir hatte. Das bescherte mir bei schönem Wetter eine gute Fernsicht. Immer noch kämpfte ich mit dem Gedanken, über die Krim zu fahren. Spätestens in Uman musste ich mich dann entscheiden. Dort ging die Straße links weg in Richtung Osten. Der Abend und die Nacht in Uman brachte dann Klarheit. Am Morgen fuhr ich geradeaus Richtung Odessa, soll heißen, ich entschied mich für die sichere Variante, was sich in Georgien als richtige Entscheidung herausstellen sollte. Die andere Option wäre ein folgenschwerer Fehler gewesen, den ich im Kapitel „Georgien“ noch näher erklären werde.
Auf den letzten Etappen bis Odessa war mir das Wetter dann nicht mehr so hold. Nebel, Regen und Gewitter wechselten sich ab. Unterkünfte waren schwer zu finden, doch über eine ist es wert zu berichten.
Am Tag vor Odessa hatte ich eine lange Tour vor mir. Kräftiger, starker Gegenwind bremste mein Tempo gewaltig und forderte meine Muskulatur sehr. Gegen Abend lag vor mir erneut eine Gewitterfront. Der Himmel war so schwarz, dass er den Tag fast zur Nacht machte, als unerwartet am Straßenrand ein Hinweisschild auf eine Übernachtungsmöglichkeit stand. Allerdings ging es rechts weg in ein kleines Dorf, 5 km ab von meiner Route. Der nächste Ort, den es mir anzeigte, war 20 km entfernt, genau in der Richtung, wo die Gewitterwolken am tiefsten hingen.
Also entschied ich mich für das kleine Dorf rechts neben mir, auch wenn es ein Umweg war. Als ich dort ankam, war die aufgeführte Pension natürlich nicht zu finden. Es gab sie schon lange nicht mehr. Ich fragte trotzdem bei der angegebenen Adresse nach. Die Tochter des Hauses, die ein bisschen Englisch konnte, also genauso viel wie ich, erklärte mir, dass es die Zimmer zwar noch gebe, sie aber schon lange nicht mehr vermietet würden. An meinem enttäuschten Gesicht konnten sie und ihre Mutter aber meine Not ablesen. Sie boten mir ein halbwegs hergerichtetes Zimmer an. Mit Karte konnte ich in dieser einfachen Herberge jedoch nicht bezahlen, und das ukrainische Geld war mir ausgegangen. Die junge Frau machte mir verständlich, dass ich auch mit Euro bezahlen könne. Da mein kleinster Schein aber ein Hunderter war, hatten wir das nächste Problem. Erst als sie mir den Preis, umgerechnet in Euro, auf einen Zettel schrieb, machte sich bei mir Erleichterung breit. Das Zimmer kostete 2,50 Euro, und die hatte ich noch in klein in meiner Lenkertasche. Ich hatte zwar keine Ahnung, ob sie mit dem Kleingeld in der Ukraine jemals etwas anfangen können würde, aber sie war glücklich, und ich war es auch, denn wenig später machte Petrus seine Schleusen auf, und es begann sintflutartig zu regnen.
Am nächsten und letzten Tag vor dem Schwarzen Meer war dann wieder Kaiserwetter. Nach einem sehr steilen, langen Anstieg ging es gleichmäßig und stetig leicht den Berg runter, bis ich die Stadt Odessa erreichte. Die Landschaft war sagenhaft. Meine Blicke schweiften über saftige, grüne Wiesen und das Ufer eines Sees, der vor der Stadt lag. Ungeduldig radelte ich durch eine lange Vorstadt und durch das Zentrum, bis ich am Ufer des Schwarzen Meeres stand. Noch bevor ich eine Unterkunft hatte, wollte ich es sehen, und es enttäuschte mich nicht. Ich war so stolz auf meine Leistung, dass es mir zum ersten Mal die Tränen in die Augen drückte. Überwältigt vom Anblick des Meeres stand ich einige Minuten regungslos da und genoss den Moment, bis mich von hinten eine junge Frau ansprach und mich aus meinen Gedanken an zu Hause, aus meinen Emotionen riss.
Sie interessierte sich sehr dafür, wo ich mit meinem bepackten Rad herkam. Nachdem wir uns einige Zeit unterhalten hatten, bat ich sie, noch ein paar Bilder von mir und meinem Rad vor dem Hintergrund des Schwarzen Meers zu machen. Das tat sie gern. Als wir uns verabschiedeten, fragte sie mich, ob sie mich einmal berühren dürfe, da sie in ihrem Leben noch nie einen Menschen kennengelernt habe, der so eine Reise machte. Geschmeichelt sagte ich ja, sie legte ihre Hand auf meine Schulter, und im selben Moment spürte ich selbst, dass ich hier etwas total Verrücktes durchzog. Gleichzeitig hatte ich von nun an aber tatsächlich das Gefühl, dass ich kein Fahrradgreenhorn mehr war, sondern mir mein Reiseplan auch abgenommen wurde, nicht wie zu Beginn, als ich ständig nur ein leichtes Lächeln erntete, wenn ich darüber sprach. Dann zog ich weiter. Die Uferpromenade war perfekt. Ein riesiger Park entlang des Ufers führte mich auf einem guten Radweg schließlich zu einem Hostel, wo ich mich für die nächsten drei Tage einmietete.
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