Die allgemeine Richtung für die ersten fünf Dekaden – also etwa von der Jahrhundertwende bis zum Ende der 1940er Jahre – stand stark unter dem Einfluss von Edward Thorndike (
Kap. 1.1 1.1 Lernen als Assoziationsbildung Mit dem Gedanken, dass sich alle Erkenntnis aus der Erfahrung ableitet, erlangte die in England ansässige philosophische Schule des Empirismus um Thomas Hobbes, John Locke und David Hume im 17. und 18. Jahrhundert Weltgeltung. Im 19. Jahrhundert war es John Stuart Mill, der die Erkenntnislehre des englischen Empirismus wieder in Erinnerung brachte. Unter Rückgriff auf Aristoteles entwickelten die Vertreter des englischen Empirismus die Assoziationstheorie. Erkenntnis basiert dieser Theorie zufolge auf den sinnlichen Erfahrungs- bzw. Vorstellungsassoziationen, deren elementarste Form die räumliche und zeitliche Berührung von Ereignissen (Kontiguität) darstellt, die aber auch durch wahrgenommene Gleichheit oder Ungleichheit (Gesetz der Ähnlichkeit bzw. des Kontrasts) und durch die Wahrnehmung einer zeitlichen Abfolge (Gesetz der Kausalität) zustande kommen können. Als sich am Ende des 19. Jahrhunderts eine eigenständige physiologisch-naturwissenschaftliche Psychologie zu etablieren begann, wurde zur Beschreibung menschlicher Geistestätigkeiten auf das in der philosophischen Assoziationstheorie formulierte Prinzip der Kontiguität zurückgegriffen: Wenn zwei elementare Hirnprozesse gleichzeitig oder in unmittelbarer Aufeinanderfolge aktiv gewesen sind, dann kommt es beim Wiederauftreten des einen tendenziell zu einer Erregungsübertragung auf den anderen. (James, 1890, S. 566)
). Daraus resultierte eine pragmatisch-induktive, labor-experimentelle (auch tierexperimentelle) lernpsychologische Grundlagenforschung behavioristischer Prägung. Die Frage, wie sich die vielfältigen Einzelergebnisse der Lernexperimente auf die praktischen Tätigkeiten des Lehrens und Erziehens im Einzelnen übertragen lassen, war dabei nachrangig – wenn sie überhaupt gestellt wurde. Von großer und überdauernder Bedeutsamkeit für die gesamte Lehr-Lern-Forschung war die von Thorndike vertretene Theorie des assoziativen, verknüpfenden Lernens (
Kap. 1.2 1.2 Lernen als Verhaltensänderung Durch gänzlich pragmatische Umsetzungen der assoziationstheoretischen Überlegungen Thorndikes begann in den 1920er Jahren eine neue, verhaltensorientierte (behavioristische) Auffassung des Lernens ihren weltweiten Siegeszug. Als Gründer dieser mit großem pädagogischen Optimismus betriebenen, jedoch dem Wesen nach eher atheoretischen Lernphilosophie gilt John B. Watson. Zu den Kernannahmen der behavioristischen Sichtweise zählen, 1. dass Lernen – wissenschaftlich verstanden – gleichzusetzen ist mit sichtbaren Verhaltensänderungen, 2. dass diese Verhaltensänderungen eine direkte, also nicht durch intrapsychische Zwischenprozesse vermittelte, Funktion der Verknüpfung von Umweltreizen (Stimuli) und Verhaltensweisen (Reaktionen) sind, und 3. dass der Aufbau von Verhaltensweisen in hohem Maße durch das Ausnutzen von Reiz-Reaktions-Kontingenzen beeinflussbar ist (Watson, 1919). Schon früh wurde der behavioristische Verzicht auf Annahmen über die intrapsychischen Zwischenprozesse kritisiert. Dennoch dauerte es bis in die 1960er Jahre, bis sich Vorläufer der heute dominierenden Auffassungen von Lernen ( Kap. 1.3 und Kap. 1.4 ) durchsetzen konnten. Wesentlich für den lang anhaltenden Erfolg behavioristischer Lernauffassungen waren die vornehmlich tierexperimentellen Arbeiten von Burrhus F. Skinner, der mit großem Geschick pädagogisch leicht umsetzbare Lernprinzipien der Verhaltensformung herausgearbeitet hat. Skinners Werk gilt nicht zuletzt wegen seiner Klarheit und des unmissverständlichen Anspruchs, Lernen als objektiv-beschreibende Verhaltenswissenschaft zu betreiben, als radikal-behavioristisch.
). Thorndikes experimentelle Programmatik implizierte zugleich eine Abwendung von der durch John Dewey in der Pädagogik begründeten Tradition einer »fortschrittlichen Erziehung«, die Gesetzmäßigkeiten schulischen Lernens in sozialen, möglichst lebensechten Kontexten zu untersuchen trachtete, um daraus begründete Empfehlungen für das Unterrichten abzuleiten (Oelkers, 2010).
In der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg »vertiefte sich im deutschsprachigen Raum die Kluft zwischen […] (der) pädagogischen Psychologie und einer spekulativ-geisteswissenschaftlich orientierten Pädagogik immer mehr« (Weinert, 1967, S. 18), was zu einer allmählichen und anhaltenden Entfremdung zwischen den beiden Disziplinen beitrug (Terhart, 2002). Zwischen 1950 und 1980 folgte auf die expansive Gründungsphase der Pädagogischen Psychologie eine Phase der Konsolidierung und der Ausdifferenzierung des Faches. Dabei kam es auch zur Abtrennung und Verselbständigung von Teildisziplinen. Wichtig ist der Hinweis, dass ein beständiger Export von Konzepten und Personen in andere Bereiche der akademischen Psychologie stattfand – vornehmlich in die Entwicklungspsychologie sowie in die Differentielle und Diagnostische Psychologie. Viele methodologische und testpsychologische Entwicklungen haben in der Pädagogischen Psychologie ihren Ursprung (Glover & Ronning, 1987; Zimmerman & Schunk, 2003).
Inhaltlich-thematisch waren diese Jahre – im Hinblick auf den Kernbereich Lernen und Lehren – durch den Aufstieg und die Blütezeit, später durch den Niedergang der behavioristisch ausgerichteten Lehr-Lern-Forschung gekennzeichnet. Zunächst dominierten die experimentellen Arbeiten, später kamen zunehmend korrelative Studien hinzu. Wichtige Erkenntnisse über Gesetzmäßigkeiten des Lernens, über die Funktionsweise des Gedächtnisses und über die Wirksamkeit pädagogischer Interventionen sind dabei gewonnen worden. In dieser Zeit wurden viele amerikanische Standardwerke und Lehrbücher (z. B. Ausubel, 1968; Bloom, 1964; Bruner, Olver & Greenfield, 1966; Cronbach, 1954; Gage & Berliner, 1975; Gagné, 1965) ins Deutsche übertragen und intensiv rezipiert. Mitte der 1970er Jahre erschien in einer Phase der Bildungsreform und einer zunehmenden Akademisierung der Lehrerbildung das vierbändige Taschenbuch zum »Funkkolleg Pädagogische Psychologie« (Weinert, Graumann, Heckhausen & Hofer, 1974), das mit mehreren 100 000 verkauften Exemplaren auf große Resonanz stieß. Auch wurden außeruniversitäre Forschungsinstitute mit pädagogisch-psychologischer Schwerpunktsetzung gegründet, die zum bereits 1951 in Frankfurt eingerichteten Deutschen Institut für Internationale Pädagogische Forschung (heute: DIPF | Leibniz-Institut für Bildungsforschung und Bildungsinformation) hinzukamen: 1963 das Max-Planck-Institut für Bildungsforschung (MPIB) in Berlin, 1966 das Institut für die Pädagogik der Naturwissenschaften (IPN) in Kiel, 1967 das Deutsche Institut für Fernstudien (DIFF) in Tübingen sowie 1981 das Max-Planck-Institut für psychologische Forschung in München mit einer explizit pädagogisch-psychologischen und entwicklungspsychologischen Ausrichtung. Am Ende dieser überaus prosperierenden Dekade haben Brandtstädter, Reinert und Schneewind (1979) den Sammelband Pädagogische Psychologie: Probleme und Perspektiven herausgegeben.
In der US-amerikanischen Forschung sind die 1980er und 1990er Jahre durch die Dominanz kognitionspsychologischer Ansätze gekennzeichnet. Als inhaltliche Kernbereiche lassen sich die Forschungslinien zu Metakognition, Selbstregulation und Motivation identifizieren, aber auch zu den sozialen und kulturellen Kontextbedingungen von Lernen und Lehren, zu Geschlechterunterschieden und zur Frage der Koedukation, zur Psychologie und Didaktik der Unterrichtsfächer, zu den neuen Technologien und zum Lernen mit Medien insgesamt. Zunehmend ist auch die besondere Problematik der Lernstörung sowie der Hochbegabung betrachtet worden (Berliner, 2006; Calfee, 1992; Reynolds & Miller, 2003). Vor allem in Nordamerika hat sich die gewachsene gesellschaftliche und gesellschaftspolitische Relevanz der Pädagogischen Psychologie auch darin niedergeschlagen, dass eine Reihe gesetzlicher Initiativen und Vorgaben – am bekanntesten ist sicherlich das »No Child Left Behind«-Gesetz von 2001 – unter ihrer maßgeblichen Mitwirkung auf den Weg gebracht wurden. Überhaupt wurden Maßnahmen zur Qualitätssicherung im Bildungssystem intensiviert (National Research Council, 2000).
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