Erst indem man Distanz zur Praxis schafft, ist es möglich, Wissen über die Praxis aufzubauen. Das praktische »gewusst wie« wird dabei in theoretisches Wissen umgewandelt. Die Schwierigkeit ist nun, wie man das theoretische Wissen wieder in die andere Richtung transformieren kann. Statt Distanz zur Praxis herzustellen, um theoretisches Wissen über die Praxis zu ermöglichen, müssen wir nun Distanz aus der Theorie entfernen, um wieder praktisches Wissen zu erhalten. (Bengtsson, 1993, S. 209–210)
Vorsicht ist deshalb geboten, wenn zu viel Praxis gefordert wird, denn es waren gerade die vorschnellen, häufig funktional-eklektischen Transformationen pädagogisch-psychologischen Wissens für die unterrichtliche Praxis, die einer unangemessenen Verkürzung der Pädagogischen Psychologie als einer vermeintlichen Psychologie für Pädagogen unfreiwillig Vorschub geleistet haben (Ewert & Thomas, 1996).
Bildungsplanung und Bildungspolitik. Oft werden die Erwartungen, die Bildungspolitik und Schulpraxis an die Pädagogische Psychologie herantragen, mit dem Begriff der Evidenzbasierung verbunden (Gold, 2018a). Welchen Beitrag kann die Pädagogische Psychologie zu einer wissenschafts- und evidenzbasierten Bildungsplanung und Unterrichtspraxis leisten? Wie bereits erwähnt, setzt diese Art von Transfer inhaltlich und methodisch anspruchsvolle Grundlagenforschung voraus, verlässliche Befunde aus dieser Forschung und zudem die Fähigkeit und die Bereitschaft, Forschungsergebnisse kompetent zu kommunizieren und für die praktische Anwendung nützlich zu machen. Möglicherweise braucht es dafür eigens »Verhaltensingenieure« als Zwischeninstanzen (Kaiser, 2011), zumindest aber einen geeigneten Theorie-Praxis-Begegnungsraum (Hartmann & Klieme, 2017). Wissenschaftliche Erkenntnis und anwendungsbezogene Nützlichkeit müssen sich nicht widersprechen. Auf Anwenderseite muss aber auch die Bereitschaft vorhanden sein, die wissenschaftlichen Erkenntnisse zu rezipieren.
In Deutschland ist nach den Bildungsmonitorings durch TIMSS, PISA und IGLU (s. o.) eine bildungspolitische Diskussion über Ziele und Qualität vorschulischer Bildung, Maßnahmen der Sprachförderung, Bildungsstandards und Kernkompetenzen sowie über Formen der Schul- und Unterrichtsorganisation in Gang gekommen, zu der auch die Pädagogische Psychologie beigetragen hat (zusammenfassend: Helmke, 2015; Reinders et al., 2015a, 2015b).
Zunehmend versteht sich die Pädagogische Psychologie (wie die wissenschaftliche Psychologie insgesamt) als Disziplin, die ihre Erkenntnisse in Gesellschaft und Politik tragen möchte, um zur Bewältigung von Problemen beizutragen (Gräsel, 2010, 2015; Prenzel, 2010; Spiel, Lösel & Wittmann, 2009; Spinath et al., 2012). Hasselhorn (2009) spricht sogar von einer »Bringschuld« der Psychologie im Hinblick auf diesen Transfer – bei allen Problemen, die damit verbunden sein können. Gerade im Bildungsbereich, wo tradierte Überzeugungen, Plausibilitäten und Ideologien besonders weit verbreitet sind, wird der Transfer evidenzbasierter Erkenntnisse in die politischen Entscheidungen und ihre praktischen Umsetzungen einen besonderen Zugewinn erwarten lassen. Als Arthur Graesser (2009) die Herausgeberschaft des Journal of Educational Psychology übernahm, hat er ebenfalls auf die Bringschuld der Pädagogischen Psychologie hingewiesen und auf die Notwendigkeit, theoretisch und empirisch fundierte Erkenntnisse der Lehr-Lern-Forschung in Empfehlungen für die unterrichtliche Praxis zu transformieren (»contributions from psychology to the real world«). Er hat beispielhaft einige bewährte Lernprinzipien aufgeführt, die sich leicht in der pädagogischen Praxis anwenden lassen: (1) verteiltes Lernen ermöglichen, (2) sprachliche und bildliche Informationen kombiniert darbieten, (3) auf Kontiguitäten achten, (4) interessante Aufgaben stellen, um kognitive Konflikte auszulösen, (5) geeignete Rückmeldungen geben. In den Kapiteln 5–8 dieses Lehrbuchs wird auf die Nützlichkeit dieser Prinzipien für das Lehren ausführlich eingegangen.
Reflexionen und Zweifel. In regelmäßigen Abständen wird die deutschsprachige Pädagogische Psychologie von fundamentalen Zweifeln an ihrer Daseinsberechtigung geplagt (z. B. Ewert, 1979; Krampen, 1996; Oerter, 1987; Weinert, 1996b). Dies wurde auch anlässlich der Diskussion der Frage deutlich, ob sie als Fach gänzlich verschwinden und in einer »Bildungspsychologie«aufgehen sollte (Spiel & Reimann, 2005). Eine Ursache des wenig gefestigten Selbstverständnisses mag der rasche Wandel von Forschungsthemen sein. Solche grundlegenden, oft mit Paradigmenwechseln verbundenen Veränderungen sind allerdings auch in anderen Teildisziplinen der Psychologie zu beobachten. Mehr fällt vermutlich das permanente Aufgeriebensein zwischen einer »anwendungsorientierten«, zugleich aber »theoretisch begründeten« Grundlagenforschung ins Gewicht.
Fokus: Bildungspsychologie
Verschiedentlich wurde vorgeschlagen, die Pädagogische Psychologie in einer Bildungspsychologie aufgehen zu lassen, weil sich auf diese Weise die Lehr-Lern-Forschung auf der Mikroebene mit einer Erforschung der Strukturen und Organisationsformen auf der Meso- und Makroebene des Bildungswesens leichter verbinden ließe. Eine so verstandene Bildungspsychologie befasst sich (1) mit individuellen Bildungsprozessen im Verlauf der gesamten Bildungskarriere eines Individuums sowie (2) mit den Bedingungen und Maßnahmen, die auf den unterschiedlichen Handlungsebenen Bildungsprozesse beeinflussen können (Spiel, Schober, Wagner & Reimann, 2010). Anders als die Empirische Bildungsforschung, deren Anspruch und Sichtbarkeit 2012 in der Gründung einer interdisziplinären Gesellschaft für Empirische Bildungsforschung (GEBF) ihren Niederschlag fand, hat sich eine Bildungspsychologie allerdings nicht nachhaltig etablieren können.
So verständlich der Wunsch nach Klarheit und nach einer einheitsstiftenden Struktur auch sein mag, eine dynamische und erfolgreiche Pädagogische Psychologie zeichnet sich eben auch durch Vielfalt, Grenzüberschreitungen und Neuerungen aus. Aus diesem Grund scheint Weinerts doppelsinnige Umschreibung von einer Wissenschaft »auf der permanent erfolgreichen Suche nach ihrem Gegenstand – ohne ihn bisher gefunden zu haben« (Weinert, 1996b) genauso treffend wie die Zurückweisung der beständigen »Kritik an den vermeintlichen Unzulänglichkeiten der Pädagogischen Psychologie« (Krapp, 2001).
In den Anfängen der Disziplin waren die Pädagogischen Psychologen ohnehin zugleich Allgemeine Psychologen oder Entwicklungspsychologen: William James, Edward Thorndike und Alfred Binet sind nur einige Beispiele dafür. Wie Krapp (2001) zu Recht anmerkt, ist es auch heute nicht leicht, »eine eindeutige Grenze zwischen der Pädagogischen Psychologie und anderen Teildisziplinen der Psychologie zu ziehen« (S. 71). So lassen sich heute wenigstens vier Varianten grundlagenwissenschaftlicher Orientierungen erfolgreicher Pädagogischer Psychologie erkennen: eine allgemeinpsychologische, eine entwicklungspsychologische, eine differenzialpsychologische und eine sozialpsychologische. Pädagogische Psychologen sind jene Personen, die pädagogisch-psychologische Fragestellungen mit empirischen Methoden bearbeiten – am Ende mögen es die gleichen sein, die man anderswo als Kognitionswissenschaftler bezeichnet (Mayer, 2001). Eine stetige Weiterentwicklung der Pädagogischen Psychologie, verbunden mit einer Neuausrichtung, wo sinnvoll oder notwendig, ist jedenfalls zu begrüßen. Einen Anlass, jedes Mal »gleich an den Fundamenten der Disziplin (zu) rütteln« (Krapp, 2001, S. 72), können wir darin nicht erkennen.
Wie ist Pädagogische Psychologie zu dem geworden, was sie ist?
Die Pädagogische Psychologie hat eine Geschichte. In ihren Anfängen – etwa ab dem Jahr 1900 – fällt diese Geschichte in großen Teilen mit der Entwicklung der wissenschaftlichen Psychologie insgesamt zusammen, vor allem in der US-amerikanischen Geschichtsschreibung wird das so gesehen (Berliner, 2006; Burden, 2000; Hall, 2003; Reynolds & Miller, 2003). Zur historischen Entwicklung der Pädagogischen Psychologie gibt es eine Reihe von zusammenfassenden Abhandlungen, die, zusätzlich zu den oben genannten, auch ihren »deutschen Weg« und insbesondere ihr Verhältnis zur wissenschaftlichen Pädagogik beleuchten (z. B. Ewert, 1979; Krapp, 2014; Prenzel, 2006; Skowronek, 1979). Nach einer knappen Skizze der Entwicklung bis zum Ende der 1970er Jahre werden im Folgenden zwei Aspekte ausführlicher behandelt: die Thementrends der vergangenen 40 Jahre und die »großen«, zeitlos aktuellen Fragen.
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