Prompt kam es wie von James vorhergesehen und befürchtet. Die enttäuschten Erwartungen derer, die sich von der Wissenschaft konkrete Handlungsanweisungen erhofften, lassen sich auch heute noch in den pädagogisch-psychologischen Vorlesungen und Seminaren in der Lehrerausbildung in gleicher Weise wie damals beobachten: Die hohen Erwartungen in Bezug auf die praktische Verwertbarkeit psychologischer Erkenntnisse bleiben unbefriedigt, weil sich die allgemeinen psychologischen Gesetzmäßigkeiten des Lehrens und Lernens nicht direkt für die Lösung dringlicher Probleme der alltäglichen pädagogischen Praxis nutzen lassen. Dieses Diskrepanzerleben irritiert. Aus der Enttäuschung kann eine Abwendung von sowie eine Entwertung der wissenschaftlichen Psychologie resultieren.
Gerade dann, wenn sich die Pädagogische Psychologie in die Lehrerbildung einbringt, liegen Glanz und Elend der Disziplin dicht beieinander. Hohe Erwartungen und große Enttäuschungen hat es gegeben. Für Lehrerinnen und Lehrer wurden die ersten Lehrbücher der Pädagogischen Psychologie geschrieben (z. B. James, 1899; Thorndike, 1903). Auf das Bestreben von Lehrervereinen ging in der Gründerzeit der Psychologie die Einrichtung von Lehrstühlen für Pädagogische Psychologie zurück. Der Oberlehrer Ferdinand Kemsies begründete 1899 die Zeitschrift für Pädagogische Psychologie und versprach sich Aufschlüsse über den »gesetzmäßige(n) Zusammenhang zwischen der erzieherischen Einwirkung und den […] Phänomenen der Kinderseele« durch Anwendung naturwissenschaftlicher Methodik (Kemsies, 1899, S. 2). Ernst Neumann und Wilhelm Lay gründeten 1905 die Zeitschrift Experimentelle Pädagogik, die später mit der von Kemsies herausgegebenen fusionierte. Bald wurde die Pädagogische Psychologie verbindliches Studienfach in der Lehrerbildung und ist es bis heute.
Dennoch scheiterte der hohe Anspruch einer Psychologie für Pädagogen im Sinne einer wissenschaftlichen Grundlegung der unterrichtlichen Praxis früh (Ewert, 1979; Ewert & Thomas, 1996). Dazu hat entscheidend beigetragen, dass sich die Erkenntnisse einer rasch prosperierenden, aber in ihren Untersuchungsinhalten und experimentellen Versuchsplänen zunehmend von den pädagogischen Praxisfeldern entfernenden experimentellen Pädagogischen Psychologie nur mit Mühe auf die unterrichtliche Praxis rückbeziehen ließen. Es resultierten oft eklektische, irrelevante oder triviale Empfehlungen für die Unterrichtsarbeit, die die Disziplin zunehmend in Misskredit brachten (Weinert, 1996a, 1996c). Erst am Ende der 1960er Jahre wurde der zunehmenden Belanglosigkeit solcher Erkenntnisse gegengesteuert (
Kap. 5.1
).
Es ist nur allzu verständlich, neben wissenschaftlichen Erkenntnissen und Einsichten auch handfeste Hilfen und Anregungen für die pädagogische Praxis zu erwarten. Diese Erwartungen müssen aber enttäuscht werden. Statt rezeptartiger Handlungsanweisungen für pädagogische Situationen können nur Handlungsoptionen und allgemeine Prinzipien aufgezeigt werden. Wissenschaftliche Erkenntnisse sind stets allgemeiner Natur und können nicht ohne weiteres auf eine konkrete Unterrichtssituation oder auf eine bestimmte Person übertragen werden. Nachhaltig enttäuschen wird das nur den, »der von einer Wissenschaft vom Menschen Rezepte für dessen Behandlung erwartet und der den stets vorläufigen und approximativen Charakter jedes Forschungsergebnisses verkennt« (Weinert, 1967, S. 14). Stellt man diese prinzipielle Begrenztheit aber in Rechnung, lassen sich die Ergebnisse der empirischen Forschung gewinnbringend nutzen, um pädagogische Entscheidungen und Handlungen in einer rationalen Weise zu begründen.
Wozu kann die Pädagogische Psychologie beitragen? Sie stellt theoretisches Wissen bereit, das unser Verständnis von Lehr-Lern-Prozessen erweitert, und sie entwickelt und überprüft praxistaugliche Programme und Maßnahmen, um Lehr-Lern-Prozesse zu unterstützen bzw. zu optimieren. Sie ist damit als theoretische Wissenschaft anwendungsfähig und zugleich anwendungsorientiert. Die in pädagogischen Aufgabenfeldern praktisch Tätigen können ihre Erkenntnisse nutzen.
Von der empirischen Erforschung der pädagogischen Praxis mit Hilfe der Methoden der wissenschaftlichen Psychologie profitieren beide Seiten. Mayer (2001, S. 84) hat das primäre Erkenntnisinteresse der Pädagogischen Psychologie kurz und bündig so formuliert: »Verstehen, wie Menschen lernen und verstehen, wie man Menschen beim Lernen helfen kann«. Diese Auffassung schlägt sich auch im inhaltlichen Aufbau dieses Lehrbuchs nieder.
Hinzu kommt ein Weiteres: Erkenntnisse, wie sie z. B. aus nationalen und internationalen Schulleistungsstudien, aus der Forschung zur frühen Sprachförderung und zum kognitiven Training, aus den Studien zur Effektivität von Förderschulen oder zu den Auswirkungen einer auf sechs Jahre verlängerten Grundschulzeit gewonnen werden, können Entscheidungsgrundlagen für Bildungsadministration und -politik liefern. Das unerwartet mäßige Abschneiden deutscher Schülerinnen und Schüler in den Schulleistungsstudien zu Beginn dieses Jahrhunderts (»PISA-Schock«) hat wissenschaftspolitisch einiges in Bewegung gesetzt und die unterrichtsbezogene Lehr-Lern-Forschung in hohem Maße stimuliert. Die Pädagogische Psychologie ist nun umso mehr gefordert, gemeinsam mit den Fachdidaktiken und der Erziehungswissenschaft zu einem besseren Verständnis von Lehren und Lernen und zur nachhaltigen Förderung der vorhandenen Lernpotenziale beizutragen. In einer interdisziplinär verstandenen Empirischen Bildungsforschung hat dies seinen Ausdruck gefunden.
Fokus: TIMSS, PISA, IGLU und Co.
Nationale und internationale Schulleistungsstudien haben in den vergangenen 20 Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Die ersten auf Deutschland bezogenen Ergebnisse von PISA 2000 (Programme for International Student Assessment) wurden im Dezember 2001 veröffentlicht, die Ergebnisse von PISA 2018 im Dezember 2019 (Baumert et al., 2001; Reiss, Weis, Klieme & Köller, 2019). Dazwischen lagen fünf weitere Erhebungswellen (Prenzel et al., 2004, 2007; Klieme et al., 2010; Prenzel, Sälzer, Klieme & Köller, 2013; Reiss, Sälzer, Schiepe-Tiska, Klieme & Köller, 2016). An den internationalen Grundschul-Lese-Untersuchungen PIRLS (Progress in International Reading Literacy Study) nahmen deutsche Grundschulen seit 2001 viermal teil, zuletzt im Jahr 2016. National bekannt geworden sind die Ergebnisse unter dem Akronym IGLU (Bos et al., 2003, 2007; Bos, Tarelli, Bremerich-Vos & Schwippert, 2012; Hußmann et al., 2017). An der Trends in International Mathematics and Science Study (TIMSS) hat Deutschland in den Schuljahren 1993 bis 1996 (damals: Third International Mathematics and Science Study) sowie in den Jahren 2007, 2011 und 2015 teilgenommen (Baumert et al., 1997; Bos et al., 2008; Bos, Wendt, Köller & Selter, 2012; Wendt et al., 2016). Erfasst wurden Leistungen in den zentralen Kompetenzbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften in einem Altersbereich von 9- bis 15-Jährigen. Oftmals wurden die Studien um ergänzende Untersuchungen erweitert.
Inzwischen gibt es auch regelmäßige nationale Vergleichsstudien in Deutschland, die sich an den Bildungsstandards der Kultusministerkonferenz orientieren (z. B. Köller, Knigge & Tesch, 2010; Stanat, Böhme, Schipolowski & Haag, 2016). Die nationalen und internationalen Schulleistungsstudien haben wichtige Erkenntnisse zum Kompetenzniveau der Schülerinnen und Schüler sowie zum Ausmaß der sozial- und migrationsbedingten Disparitäten erbracht. Solchen Bildungsmonitorings kommt im Sinne einer output-orientierten Steuerung eine wichtige qualitätssichernde Funktion zu. Nur in begrenztem Maße sind Schulleistungsstudien zur Beantwortung von Fragen geeignet, die sich auf die Weiterentwicklung von Unterricht beziehen (Drechsel, Prenzel & Seidel, 2020).
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