1 ...7 8 9 11 12 13 ...51 Umgang mit Differenz. Das ist eine der zeitlos großen Fragen der pädagogischen Praxis: Wie geht man mit unterschiedlichen Lernvoraussetzungen um, wie mit individuellen Unterschieden in Herkunft, Kultur und Geschlecht? »Die Individuallage des Educandus im Unterricht berücksichtigen heißt, die Ziele und Methoden den interindividuellen Differenzen der Lernkapazität anpassen«, so Weinert (1967, S. 29) lapidar. Und Ausubel (1968) schreibt:
Wenn ich die gesamte Pädagogische Psychologie auf nur ein einziges Prinzip zu reduzieren hätte, würde ich folgendes sagen: der wichtigste Einzelfaktor, der das Lernen beeinflusst, ist das, was der Lernende bereits weiß. Ermittle dies und unterrichte ihn entsprechend. (Ausubel, 1968/1974, vi)
Was heißt »anpassen«, was heißt »entsprechend«? Beim Umgang mit Differenz lassen sich zwei grundsätzliche Vorgehensweisen unterscheiden: Eine integrative (inklusive) Behandlung und, dem entgegengesetzt, die leistungshomogenisierende (separative) Differenzierung der Lernenden. Beide Vorgehensweisen sind bei Leistungsabweichungen nach »oben« wie auch nach »unten« denkbar und üblich. In der US-amerikanischen Tradition wurde vornehmlich die Strategie der Inklusion verfolgt. Dann müssen unterschiedliche Formen des remedialen Lernens zum Einsatz kommen, etwa im Rahmen des sogenannten adaptiven Unterrichtens (
Kap. 6.1
). Eine andere Möglichkeit, auf Differenz und Heterogenität zu reagieren, besteht in der Schul- bzw. Schulsystemdifferenzierung, wodurch die institutionellen Rahmenbedingungen des Lernens verändert werden. Weil diese Form der Differenzierung in Deutschland weit verbreitet war, hat es vor allem in den 1970er Jahren eine intensive bildungspolitische Debatte über das gegliederte Sekundarschulwesen gegeben (Fend, 1982; Helmke & Weinert, 1997a) – in der Folge der neueren internationalen Vergleichsstudien wird gelegentlich daran erinnert.
Aufbau des Lehrbuchs: Erfolgreiches Lernen und Lehren
Die 457 Textseiten des Lehrbuchs verteilen sich auf die beiden Hauptteile »Lernen« und »Lehren« sowie auf diese Einleitung. Dass das Lernen vor dem Lehren behandelt wird, erleichtert die Einordung und Bewertung der später vorgestellten Methoden und Prinzipien erfolgreichen Lehrens. Weil Lehren die Lernprozesse erst auslöst, wäre auch eine umgekehrte Reihung der beiden Hauptteile möglich gewesen – allerdings voraussetzungsvoller, weil sich das Lehren besser verstehen und bewerten lässt, wenn man weiß, wie Lernen funktioniert.
Lernen und Lehren. Erfolgreiches Lernen ist gute Informationsverarbeitung. Erfolgreiches Lehren umschreibt Tätigkeiten und Bedingungen, die diese Art des Lernens unterstützen. Im ersten Hauptteil werden unterschiedliche Auffassungen über das Lernen vorgestellt (
Kap. 1 1 Auffassungen über Lernen Die Einleitung zum ersten Teil dieses Lehrbuchs haben wir mit der Feststellung begonnen, dass die Lernfähigkeit ein wichtiges Wesensmerkmal des Menschen ist. Die Lernfähigkeit erlaubt es, regelhaft und adaptiv auf aktuelle, sich stetig ändernde Anforderungen und Umweltereignisse zu reagieren. Dieses besondere Potenzial ist angeboren (übrigens auch bei den meisten nicht-menschlichen Lebewesen), nicht jedoch das Ausmaß seiner Nutzung. Zwar lernen alle Menschen, aber nicht alle können ihre Lernpotenziale in der gleichen Weise nutzen. Individuelles Lernen ist also die Nutzung des angeborenen, durch biologische Reifungsprozesse sich erweiternden, aber auch durch die Nutzung von Lerngelegenheiten sich stetig weiter entwickelnden Lernpotenzials. Eine gänzliche Nichtnutzung des individuellen Lernpotenzials ist schlichtweg undenkbar. Deshalb findet Lernen im Leben jedes Menschen statt, auch wenn es häufig unbewusst und beiläufig (inzidentell) und seltener gezielt und absichtlich (intentional) erfolgt. Menschen müssen lernen. Die Phänomene, die uns als Beispiele von Lernen in den Sinn kommen, sind äußerst vielfältig. Sie reichen vom Auswendiglernen eines Gedichts, dem Aneignen neuer Vokabeln, dem Erwerb spezieller Kenntnisse und Fertigkeiten zur Nutzung des Internets oder zur Bedienung eines Fahrkartenautomaten über die Herausbildung von Vorlieben und Abneigungen oder die Übernahme von Vorurteilen bis hin zur Verfestigung individueller Angewohnheiten und Besonderheiten, wie z. B. einem ständigen Räuspern. Allein die Aufzählung dieser Beispiele macht deutlich, wie unterschiedlich Lernen sein kann: Lernen kann absichtlich (Vokabeln lernen) oder beiläufig (Entstehen von Vorlieben) vor sich gehen; es kann durch intensives Üben und Wiederholen (Gedicht lernen) oder durch eine einmalige Beobachtung (wie man einen Zapfhahn an einer Tankstelle benutzt) zustande kommen; es kann als Bereicherung und als Zugewinn (ein Computerprogramm für Videokonferenzen beherrschen) oder als Verschlechterung (sich lästige Angewohnheiten aneignen) empfunden werden. Doch was ist den mit diesen Phänomenen verbundenen Lernprozessen gemeinsam? Was ist Lernen? Was genau ist geschehen, wenn wir sagen, dass jemand etwas gelernt hat? Hier stehen wir vor einer der Kernfragen der Psychologie. Bei der Beschäftigung mit dieser Frage haben sich unterschiedliche Auffassungen darüber gebildet, was zum Auslösen von Lernprozessen führt bzw. welchen Gesetzmäßigkeiten Lernen unterliegt. Trotz dieser unterschiedlichen Auffassungen, von denen die wichtigsten in diesem Kapitel skizziert werden, lässt sich auf einer sehr allgemeinen Ebene eine gemeinsame Vorstellung, d. h. ein definitorischer Kern von Lernen identifizieren.
), die sich im Verlauf der mittlerweile mehr als 135-jährigen psychologischen Lernforschung herausgebildet haben. Die von uns bevorzugte Auffassung betrachtet erfolgreiches Lernen als »gute Informationsverarbeitung« (
Kap. 2
). Gute Informationsverarbeitung setzt voraus, dass individuelle Voraussetzungen kognitiver, motivationaler und volitionaler Art gegeben sind, die ein zielführendes Aufnehmen, Verarbeiten und Behalten neuer Informationen möglich machen. Ergebnisse erfolgreichen Lernens manifestieren sich im Aufbau von Fertigkeiten und Kenntnissen, die bereichsspezifischer und inhaltsübergreifender Art sein können (
Kap. 3
). Dass das Ausmaß des Lernerfolgs wie auch besondere Probleme, die beim Lernen auftreten können, durch individuelle Besonderheiten und Begabungen sowie durch allgemeine und spezifische Entwicklungsvoraussetzungen mitbestimmt werden, ist offensichtlich (
Kap. 4
).
Im zweiten Hauptteil werden unterschiedliche Auffassungen über Lehren erörtert, die eine theoretische Einordnung der unterschiedlichen Lehrmethoden erleichtern (
Kap. 5
). Erfolgreich sind Lehrmethoden vor allem dann, wenn sie den wichtigsten Dimensionen der Unterrichtsqualität Rechnung tragen. Bewährte Lehrmethoden sind z. B. die direkte Instruktion, Formen des entdeckenlassenden und problemorientierten Lehrens sowie die kooperativen Lernarrangements (
Kap. 6
). Nicht jede Lehrmethode ist allerdings für jeden Lernenden und für jedes Lernziel gleich gut geeignet. Aussagen über die Wirksamkeit von Lehr-Lern-Prozessen müssen Rahmenbedingungen unterschiedlicher Art beachten (
Kap. 7
). Besonderheiten des Lehrens ergeben sich beispielsweise daraus, dass sich die Lernenden voneinander unterscheiden, z. B. Jungen von Mädchen oder Kinder mit Lernstörungen von Kindern mit einer unauffälligen Lernentwicklung. Wie man durch unterrichtliche und unterrichtsergänzende Maßnahmen mit solchen Unterschieden, vor allem mit Lernschwächen und -störungen umgehen kann, lesen Sie in Kapitel 8 (
Kap. 8
).
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