Der Begriff der Handlungsorientierung bezeichnet eine Disposition, die die erfolgreiche Umsetzung von Absichten in die Tat begünstigt. Handlungsorientierten gelingt die Handlungskontrolle in der Regel besonders gut (Kuhl & Kazen, 2003): Eine missliche Lage führt bei ihnen nicht zu einem übermäßig langen Nachgrübeln darüber, wie es dazu gekommen ist oder wer daran Schuld habe. Stattdessen beginnen sie sehr bald wieder damit, verschiedene Handlungsmöglichkeiten zu generieren. Lageorientierte Personen dagegen verharren in einer Fixierung auf eine eingetretene oder vorgestellte missliche Lage, was ein Verhalten hervorbringt, das wir in Kapitel 1.2 als Phänomen der »erlernten Hilflosigkeit« beschrieben haben.
Die Forschung hat zunächst gezeigt, dass Lageorientierung eigentlich durchaus etwas Positives sein kann: Zögern und Nachdenken kann gegenüber einem allzu schnellen Handeln Vorteile haben, besonders in komplexen Situationen, die zahlreiche, oft gar nicht sofort erkennbare Risiken bergen. Lageorientierte zeigen in der Tat auch bei [komplexeren] Alltagsaufgaben […] (z. B. Erarbeitung eines Lehrbuchtextes) gegenüber Handlungsorientierten Leistungsvorteile, wenn sie nicht unter Zeitdruck gesetzt werden und sich überhaupt in einer relativ entspannten Situation befinden. […] Lageorientierung bringt erst dann mehr Nachteile als Vorteile, wenn der Wechsel zur Handlungsorientierung auch dann nicht mehr gelingt, wenn es wirklich Zeit ist zu handeln. (Kuhl & Kazen, 2003, S. 205 f)
Individuelle Unterschiede in der Handlungs- versus Lageorientierung lassen sich anhand des Fragebogens HAKEMP erfassen (Kuhl & Beckmann, 1994). Dabei werden drei Facetten des volitionalen Stils unterschieden, die von den Autoren als prospektive Handlungs- vs. Lageorientierung (HOP-LOP), als Handlungs- vs. Lageorientierung nach Misserfolg (HOM-LOM) und als Handlungs- vs. Lageorientierung während der Tätigkeitsausführung (HOT-LOT) bezeichnet werden. Diese drei Facetten beziehen sich auf die Initiierung von Handlungen, die man sich vorgenommen hat (d. h. auf die generelle Handlungsbereitschaft), auf die Fähigkeit zur Misserfolgskontrolle (d. h. auf die »erschwerte« Handlungsbereitschaft, nachdem man bereits mit Misserfolgen oder anderen aversiven Ereignissen konfrontiert wurde) sowie auf die Persistenz des Handelns (d. h. auf die Bereitschaft, an einer Tätigkeit festzuhalten).
Beispiel: Der Fragebogen HAKEMP (nach Kuhl & Beckmann, 1994)
Wenn meine Arbeit als völlig unzureichend bezeichnet wird, dann
a. lasse ich mich davon nicht lange beirren (HOM)
b. bin ich zuerst wie gelähmt (LOM)
Wenn ich sehr viele Dinge zu erledigen habe, dann
a. überlege ich oft, wo ich anfangen soll (LOP)
b. fällt es mir leicht, einen Plan zu machen und ihn auszuführen (HOP)
Wenn ich mit einem Nachbarn über ein interessantes Thema rede, dann
a. entwickelt sich leicht ein ausgedehntes Gespräch (HOT)
b. habe ich bald wieder Lust, etwas anderes zu tun (LOT)
Dem aufmerksamen Leser wird nicht entgangen sein, dass der volitionale Stil der Handlungsorientierung an die motivationale Disposition der Erfolgszuversichtlichkeit erinnert und dass auch Ähnlichkeiten zwischen der Lageorientierung und der Misserfolgsängstlichkeit bestehen. Offenkundig besteht ein enger Zusammenhang zwischen den motivationalen und den volitionalen Voraussetzungen des Lernens. Bei aller Ähnlichkeit gibt es jedoch einen entscheidenden Unterschied: Während motivationale Dispositionen entscheidend sind für die vom Lernenden bevorzugten Zielsetzungen und die Auswahl von Aktivitäten, wird die konkrete Realisierung motivierten Verhaltens durch die volitionale Orientierung determiniert. Handlungsorientierte verfügen in der Regel über vollständig und angemessen ausgebildete Absichten, indem ihnen vier Aspekte der Verhaltensplanung gleichermaßen deutlich sind (Kuhl & Beckmann, 1994):
1. der angestrebte zukünftige Zustand,
2. der zu verändernde gegenwärtige Zustand,
3. die zu überwindende Diskrepanz zwischen Ist- und Soll-Zustand und
4. die beabsichtigte Handlung, mit der die Diskrepanz reduziert werden soll.
Bei Lageorientierten findet man demgegenüber häufig sogenannte degenerierte Absichten (Kuhl, 1987) durch eine unausgewogene Präsenz der skizzierten Aspekte. Nach einem Misserfolgserlebnis kreisen z. B. ihre Gedanken nur um den gegenwärtigen Zustand (also den 2. Aspekt). Mit einigem zeitlichen Abstand kommt vielleicht auch der Gedanke ins Spiel, wie schön doch ein Erfolg gewesen wäre (1. Aspekt). Solange jedoch nicht darüber nachgedacht wird, worin die aktuelle Diskrepanz zwischen dem erreichten und dem erwünschten Zustand besteht (3. Aspekt) und vor allem, was man tun könnte, um sie zu überwinden (4. Aspekt), wird es in der aktuellen Lernsituation nur schwerlich zur Realisierung einer notwendigen Handlung kommen.
Die bis hierhin beschriebenen Mechanismen und Prozesse der volitionalen Komponenten des Lernens mögen dem kritischen Leser erstaunlich rational, kühl und in gewisser Weise distanziert erscheinen. Aber entspricht das der von Lernenden subjektiv erlebten Realität? Vermutlich nicht ganz, denn auch Emotionen spielen eine wichtige Rolle für den Erfolg von Lernprozessen. Da ohne die Berücksichtigung der oft mit dem erlebten Erfolg oder Misserfolg in Lernsituationen einhergehenden Emotionen die Betrachtung der nicht-kognitiven individuellen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens unvollständig wäre, wird im Folgenden der Frage nach der Rolle der Emotionen nachgegangen.
Studie: Handlungsorientierung mediiert den Effekt der Gewissenhaftigkeit auf schulische Lernleistungen
Schlüter et al. (2018) untersuchten bei Schülerinnen und Schülern der Sekundarstufe, ob sich ein Einfluss volitionaler Kompetenzen auf schulische Leistungen zeigt, der unabhängig ist von den allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und dem oben bereits erwähnten Persönlichkeitsmerkmal der Gewissenhaftigkeit. In multiplen Regressionsanalysen konnte ein bedeutsamer Effekt der Handlungsorientierung nach Misserfolg sowie der prospektiven Handlungsorientierung auf schulische Leistungen nachgewiesen werden, der unabhängig ist von den allgemeinen kognitiven Fähigkeiten und der Ausprägung der Gewissenhaftigkeit bei den Schülerinnen und Schülern. Der Einfluss des Persönlichkeitsmerkmals Gewissenhaftigkeit auf die schulischen Leistungen zeigte sich nur bei hoher Ausprägung der Handlungsorientierung.
Welche Emotionen sind für Lernleistungen relevant?
Man stelle sich einmal vor, wie es wäre, wenn man zwar denken und rational handeln, aber nicht fühlen könnte. Man würde dann keine Angst, keine Wut und keine Traurigkeit mehr verspüren, aber auch keine Freude, keine Hoffnung, keine Zufriedenheit und keine Leidenschaft. Mit anderen Worten: Man lebte ohne Emotionen.
Unter Emotionen versteht man komplexe Muster körperlicher und mentaler Veränderungen. Sie umfassen physiologische Erregungen, Gefühle, kognitive Prozesse und Reaktionen im Verhalten als Antworten auf eine Situation, die als persönlich bedeutsam wahrgenommen wurde. Diese Muster können relativ überdauernder, dispositioneller Art sein oder aber auch intraindividuell sehr variabel ausfallen. Im letzteren Fall spricht man häufig auch von Stimmungen und ihren Schwankungen.
Auch wenn man sich gelegentlich darüber ärgern kann, dass negative Emotionen erfolgreiches Handeln behindern mögen, so übernehmen Emotionen in unserem Leben doch viele wichtige und nützliche Funktionen. Gefühle ermöglichen, dass wir rasch und flexibel auf wichtige und gefährliche Ereignisse reagieren können. Emotionen und Gestimmtheiten befördern auch die kognitiven Funktionen, indem sie sehr frühzeitig im Prozess der Informationsverarbeitung Einfluss darauf nehmen, worauf wir achten (selektive Aufmerksamkeit) oder wie wir uns selbst wahrnehmen (Selbstkonzept).
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