Aber kommen wir abschließend noch einmal auf das Verhältnis von Leistungsmotiv und Fähigkeitsselbstkonzept zurück. Ob das Leistungsmotiv das Fähigkeitsselbstkonzept determiniert oder ob sich der Kausalzusammenhang gerade anders herum darstellt, ist genauso schwer zu beantworten wie das berüchtigte Henne-Ei-Problem. Da allerdings die theoretischen Modellvorstellungen zum Leistungsmotiv im Vergleich zu denen des Selbstkonzepts elaborierter ausfallen, scheint uns die Konzeption des Leistungsmotivs besser geeignet, interindividuelle Unterschiede individueller motivationaler Voraussetzungen des Lernens zu umschreiben. Um deutlich zu machen, dass das Selbstkonzept (oder auch das verwandte Konzept der Selbstwirksamkeitserwartungen) nicht schon vollständig in der motivationspsychologischen Theorie des Leistungsmotivs enthalten sind, sprechen wir vom Lern- und Leistungsmotivsystem als einem relativ zeitstabilen Personmerkmal, das durch die Einschätzungen der eigenen Fähigkeiten, durch differenzielle Attribuierungstendenzen nach Erfolgs- bzw. Misserfolgserlebnissen und durch die assoziierten Zielsetzungen, Selbstbewertungen und damit verbundenen emotionalen Empfindungen näher charakterisiert ist.
2.5 Volition und lernbegleitende Emotionen
Jahrzehntelang hat sich die Motivationspsychologie mit den individuellen Voraussetzungen erfolgreichen Lernens beschäftigt, die dazu führen, dass überhaupt Lernabsichten gebildet werden. Interesse an den spezifischen Inhalten einer Lernanforderung, die Hoffnung auf Lernerfolg und eine gute Leistung sowie der damit verbundene Wunsch, sich ein weiteres Mal in seinem eigenen Leistungsvermögen bestätigt zu sehen, motiviert zum Lernen. Diese Motive können dazu antreiben, eine Lernabsicht auszubilden und Anstrengungen in die Bewältigung von Lernaufgaben zu investieren. Die Absicht, ein Ziel zu erreichen, ist jedoch bekanntlich nicht identisch mit ihrer Realisierung. Hierfür bedarf es der Initiierung und Ausführung geeigneter Handlungen, die – weil sie ja gewollt sind – als volitional bezeichnet werden (Heckhausen & Kuhl, 1985).
Damit wird eine Thematik wieder aufgegriffen, die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts von Narziß Ach (1905) unter der Bezeichnung »Willenstätigkeit« bzw. »Willensbetätigung« untersucht worden war. Um die Volition einerseits von der Motivation abzugrenzen und andererseits deutlich zu machen, dass beide im Handlungsablauf eng aufeinander bezogen sind, haben Heckhausen, Gollwitzer und Weinert (1987) das Rubikon-Modell zielgerichteter Handlungen formuliert (
Abb. 2.11). Der Grundgedanke dieses Modells ist, dass in dem Moment der Entscheidung für das Umsetzen einer Handlung die Grenzlinie zwischen Motivation und Volition überschritten wird. Heckhausen et al. (1987) haben die Bezeichnung Rubikon-Modell gewählt, um an die folgenreiche Entscheidung Caesars zur bewaffneten Überquerung des Grenzflusses Rubikon zwischen Gallia Cisalpina und Rom (im Jahr 49 v. Chr.) zu erinnern. Das war ein Staatsstreich. Caesar kam damit seiner geplanten Entmachtung durch den römischen Senat zuvor. Von dem Moment an, in dem Caesar seine Absicht zum Überschreiten des Rubikon gefasst hatte, gab es kein Zurück mehr.
Abb. 2.11: Das Rubikonmodell des Handelns nach Heckhausen (1989; modifiziert übernommen aus Rheinberg & Vollmeyer, 2019, S. 223)
Verspürt eine Person einen hinreichend ernsthaften Wunsch, etwas zu tun, so beginnt sie damit, die Machbarkeit und die Konsequenzen seiner Umsetzung und die Wünschbarkeit dieser Konsequenzen zu beurteilen. Dem Rubikon-Modell zufolge befindet sich die Person dabei zunächst in einer realitätsorientierten motivationalen Phase, in der sie offen für alle entscheidungsrelevanten Informationen ist. Insbesondere werden auch negative Informationen sondiert, geradezu so, als wolle die Person sich selbst davon überzeugen, dass es sich nicht lohne, dem Wunsche folgend zu handeln. Nur wenn sich die Überzeugung einstellt, dass die Folgen einer Nicht-Realisierung des Wunsches im Vergleich zu den Folgen seiner Realisierung unannehmbar sind, kommt es zur Intentionsbildung: Aus dem Wunsch wird eine Absicht. Das ist der entscheidende Punkt.
Mit der Absichtsbildung ist der Rubikon überschritten, so dass sich die Bewusstseinslage der Person schlagartig ändert. Die Person tritt in eine realisierungsorientierte Volitionsphase ein, in der vorzugsweise solche Informationen beachtet werden, die für die Realisierung der Absicht relevant sind. Wenn die Absicht etwa darin besteht, einen bestimmten schulischen Bildungsabschluss zu erreichen, dann gewinnen in der Volitionsphase jene psychischen Kräfte an Bedeutung, die über das notwendige »Motiviertsein« und über die notwendige Bereitschaft, Anstrengung zu investieren, hinausgehen. Erst die volitionalen Kräfte ermöglichen es, die Umsetzung der gebildeten Absicht unbeirrt und hartnäckig zu verfolgen. Sie äußern sich z. B. in protektiv-handlungsleitenden Einstellungen und Überzeugungen, so etwa in der Überzeugung, die bevorstehenden Ereignisse und Handlungen selbst vollständig kontrollieren zu können (Gollwitzer, 1991). Erst wenn das eigene Handeln zur Realisierung der Absicht geführt hat, lässt der volitionale Bewusstseinszustand nach. Es kommt dann zur Deaktivierung der Intention und die Person kehrt zurück in einen realitätsorientierten Bewusstseinszustand. In der motivationalen Phase konkurrieren dann erneut die unterschiedlichen Wünsche und Bedürfnislagen, bevor es zu einer neuen Absichtsbildung kommen mag.
Die volitionalen Kräfte zeigen sich in besonderen Verhaltensweisen, die wir gemeinhin als Hinweise auf ein diszipliniertes und gewissenhaftes Lernen werten. Gewissenhaftigkeit wird übrigens auch in der Persönlichkeitspsychologie als eine der zentralen Dispositionen angesehen, in der sich Menschen systematisch voneinander unterscheiden (McCrae & Costa, 1999).
Beispiel: Gewissenhaftigkeit
Seit einiger Zeit hat man sich um eine Klärung der Prädiktionskraft nicht-kognitiver Persönlichkeitsmerkmale für berufliche Leistungen bemüht. Barrick und Mount (1991) kommen nach einer Sichtung vorliegender Daten zu den von McCrae und Costa (1999) postulierten fünf Hauptfaktoren der menschlichen Persönlichkeit (Extraversion, emotionale Stabilität, Verträglichkeit, Gewissenhaftigkeit und Offenheit für Erfahrungen) zu folgendem Befund: Nur die Gewissenhaftigkeit ist ein valider Prädiktor der Performanz über alle Stichproben und Berufsgruppen hinweg. Vermutlich handelt es sich bei diesem Konstrukt um ein Konglomerat motivationaler und volitionaler Dispositionen.
Hoch ausgeprägte volitionale Kompetenzen erhöhen die Selbstkontrolle und das Selbstregulationspotenzial. Dies kommt dem Lernenden insbesondere in solchen Lernsituationen zu Gute, in denen die Lernziele relativ global und vage sind.
Angemessen eingesetzte volitionale Kontrolle hilft Personen, das zu tun, was sie tun wollen, indem sie ihre kognitiven, motivationalen und emotionalen Prozesse zielführend regulieren. (Corno & Kanfer, 1993, S. 303)
Der funktionalen Beschreibung von Corno und Kanfer (1993) ist zu entnehmen, dass die Kontrolle unterschiedlichster Prozesse während des Lernens den Kern der Volition ausmacht. Insofern hat das Konzept der Volition große Ähnlichkeiten mit dem in Kapitel 2.3 dargestellten Konzept der Metakognition, das die Potenziale zur Kontrolle und Regulation kognitiver Prozesse beschreibt. Folgt man der Terminologie von Corno und Kanfer (1993), dann ließen sich Metakognitionen auch als Teilmenge der Volition auffassen, denn Volition bezieht sich sowohl auf die Kontrolle der kognitiven als auch auf die Kontrolle der motivationalen und emotionalen Prozesse.
Читать дальше