2. Anpassung und Kündigung in besonderen Fällen
802
§ 60 erlaubt die Anpassung und Kündigung des örV in besonderen Fällen. Es handelt sich um eine Ausnahme von der Bindung an den einmal geschlossenen Vertrag (pacta sunt servanda). Die Vorschrift bildet die Parallelezur privatrechtlichen Störung der Geschäftsgrundlage nach § 313 BGB[133].
a) Störung der Geschäftsgrundlage nach § 60 Abs. 1 S. 1 VwVfG
803
Nach § 60 Abs. 1 S. 1 müssen sich die für die Festsetzung des Vertragsinhalts maßgeblich gewesenen rechtlichen oder tatsächlichen Verhältnisse seit Abschluss des Vertrags wesentlich geänderthaben. Maßgebliche Verhältnisse sind die grundlegenden Umstände, die zwar nicht Vertragsinhalt geworden, andererseits aber auch nicht bloßer Beweggrund geblieben, sondern von den Vertragspartnern zur gemeinsamen Grundlage des Vertrags gemacht worden sind. Die Grundlage eines Vertrags ist ggf. durch Auslegung zu ermitteln.
804
§ 60 Abs. 1 S. 1 kommt bei einer wesentlichen Änderung der tatsächlichen Verhältnisse nachVertragsabschluss zur Anwendung. Haben die tatsächlichen Verhältnisse, die zum Vertragsabschluss geführt haben, von Anfang an gefehlt, spricht man von einem Fehlen der subjektiven Geschäftsgrundlage; auch dieser Fall unterfällt der Regelung des S. 1. Ebenso wie im Zivilrecht wird also der Fall des Fehlens der Geschäftsgrundlage mit ihrem nachträglichen Wegfall gleichbehandelt[134].
805
Mit Blick auf die Änderung der rechtlichen Verhältnisseist zu unterscheiden: Wenn sich die Rechtslage rückwirkend ändert und das Gesetz unmittelbar in abgeschlossene Verträge eingreift, so bewirkt die neue Rechtslage bereits die Anpassung; § 60 greift nicht ein. Wird durch eine spätere Gesetzesänderung allein die Anspruchsgrundlage verändert, so kann ein Vertrag gegenstandslos werden. In diesem Fall besteht, wenn die weiteren Voraussetzungen des § 60 vorliegen, ein Anspruch auf Kündigung. Bildet die Basis eines Vertrags ein Gesetz, welches nachträglich für verfassungswidrig erklärt wird, so handelt es sich um einen Wegfall der Geschäftsgrundlage[135]. Ein gemeinsamer Rechtsirrtum über die Rechtslage oder über eine bestimmte Rechtsprechung ist als Fall des Fehlens der subjektiven Geschäftsgrundlage zu betrachten[136].
806
Von einer wesentlichen Änderungder Verhältnisse ist zu sprechen, wenn die Änderung so erheblich ist, dass der Vertrag bei Bekanntsein der Umstände im Zeitpunkt des Vertragsschlusses aus der Sicht eines verständigen Betrachters nicht mit demselben Inhalt zustande gekommen wäre[137]. Ferner liegt das Tatbestandsmerkmal „wesentliche Änderung der Verhältnisse“ vor, wenn nach Vertragsabschluss tatsächliche Umstände oder wesentliche Bedingungen weggefallen sind, deren Bestand die Vertragspartner als gemeinsame Grundlage des Vertrags angenommen und deren Fortbestand sie fraglos vorausgesetzt haben[138]. Unwesentliche Änderungen sind irrelevant. Ohne Bedeutung sind auch Einwirkungen, die beide Parteien oder die Allgemeinheit in gleicher Weise betreffen. Unzumutbarist ein weiteres Festhalten am Vertrag, wenn die Ausgleichsfunktion der beiderseits geschuldeten Leistungen so stark gestört ist, dass es dem betroffenen Vertragspartner nach Treu und Glauben unmöglich wird, in der bisherigen vertraglichen Regelung seine Interessen auch nur annähernd noch gewahrt zu sehen[139].
807
Liegen beide Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 S. 1 vor – maßgebliche Änderung der Verhältnisse, Unzumutbarkeit des Festhaltens an der ursprünglichen vertraglichen Regelung –, so besteht die Rechtsfolge zunächst in einem Anspruch der benachteiligten Partei auf Anpassungdes Vertragsinhalts an die geänderten Verhältnisse[140].
808
Erst dann, wenn eine Abänderung des Vertrags ein zumutbares Ergebnis nicht bringt, kommt eine vollständige Vertragsauflösung durch Kündigungin Frage[141]. Eine Vertragskündigung löst in der Regel keine Schadenersatzpflicht aus. Denkbar ist eine Teilung eines Schadens. Eine Ausgleichspflicht entfällt, wenn beide Parteien ein gleiches Risiko tragen.
b) Sonderkündigungsrecht nach § 60 Abs. 1 S. 2 VwVfG
809
§ 60 Abs. 1 S. 2 gibt der Behörde ein besonderes Kündigungsrecht, nämlich dann, wenn sie schwere Nachteile für das Gemeinwohlverhüten oder beseitigen will. Der Begriff „schwere Nachteile für das Gemeinwohl“ ist eng auszulegen. Sein Vorliegen ist zu bejahen, wenn besondere, erhebliche, überragende Interessen der Allgemeinheit die Auflösung des Vertrags gebieten. Dieses Kündigungsrecht ist „ultima ratio“. Die Literatur fordert für den Fall einer Kündigung nach § 60 Abs. 1 S. 2 die Zahlung einer Entschädigung[142].
c) Anforderungen an die Kündigungserklärung
810
Die Kündigung bedarf nach § 60 Abs. 2 der Schriftform, soweit nicht durch Rechtsvorschrift eine andere Form vorgeschrieben ist. Der Kündigung soll eine Begründung beigefügt werden. Die Kündigung selbst ist kein VA[143].
3. Sonstige Leistungsstörungen
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Wie bei jedem Vertrag sind auch bei einem örV Leistungsstörungen denkbar. Über diese enthält das VwVfG, von § 60 abgesehen, keine Aussagen. Allerdings gelten nach § 62 S. 2 die Vorschriften des BGB entsprechend. Das im BGB geregelte Recht der Unmöglichkeit und des Verzugs sowie das Recht der positiven Vertragsverletzung – § 280 Abs. 1 BGB – und der culpa in contrahendo[144] – §§ 311 Abs. 2, 280 BGB – gelten deshalb auch für örV[145].
VIII. Aufbauschema öffentlich-rechtlicher Vertrag
812
Hinweis: Im Obersatz ist regelmäßig auf die Wirksamkeit des örV abzustellen (s.o. Rn 783)!
I. |
Vorfrage: Vorliegen eines örV? 1.Vorliegen eines Vertrags (Abgrenzung zu anderen Handlungsformen)? 2.Verwaltungsvertrag (Abgrenzung von anderen Materien des öffentlichen Rechts)? |
II. |
Zulässigkeit der Handlungsform 1.Grundsatz der Zulässigkeit (§ 54 S. 1) 2.Ermittlung eines Handlungsformverbots als Ausnahme? |
III. |
Formelle Rechtmäßigkeit 1.Handeln der zuständigen Behörde 2.Anforderungen an das Verfahren (insbes. Zustimmungserfordernisse nach § 58) 3.Einhaltung der Form (§ 57) |
IV. |
Materielle Rechtmäßigkeit 1.Anforderungen des Fachrechts (zB nach dem BauGB) 2.Anforderungen nach §§ 55, 56 (bei Vergleichs- und Austauschverträgen) 3.Verstoß gegen sonstiges höherrangiges Recht |
V. |
Folgen der festgestellten Rechtswidrigkeit 1.Nichtigkeit nach § 59 Abs. 2? 2.Nichtigkeit nach § 59 Abs. 1? 3.Schwebende Unwirksamkeit (im Fall des § 58)? 4.Ansonsten „pacta sunt servanda“ (Ausnahmen nach § 60) |
813
Lösung Fall 22 ( Rn 715):
U könnte den Erlass des Bebauungsplans aus einem örV beanspruchen. Voraussetzung ist die Wirksamkeit des örV.
1. Ein örV liegt vor; es ist ein Vertrag geschlossen worden, der Baurecht, also öffentliches Recht zum Gegenstand hat. §§ 54 ff ist anwendbar. Die Handlungsform örV ist zulässig: Verpflichtungsvertrag verstößt nicht gegen § 10 BauGB.
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