402
Vor allem aber kann das Unionsrechtvorsehen, dass der in einem Mitgliedstaat erlassene VA auch in den anderen Mitgliedstaaten Verbindlichkeit erlangt[196]. Auch insoweit kommt der bereits angesprochene Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber dem innerstaatlichen Recht zum Tragen (s.o. Rn 53). Die transnationale Wirkung hat hier zur Folge, dass es keines Anerkennungsakts der anderen Mitgliedstaaten (mehr) bedarf. Die Transnationalität bewirkt zudem, dass sich die Rechtmäßigkeitsanforderungengrundsätzlich nach dem Recht des Mitgliedstaats richten, welcher den VA erlassen hat. Die anderen Mitgliedstaaten sind damit auch an rechtswidrige VAe gebunden, sofern sie nicht nichtig sind (zur Unterscheidung zwischen der Rechtswidrigkeit und Nichtigkeit s.u. Rn 542)[197]. Relevanz entfaltet der transnationale VA insbes. im Stoffrecht[198].
403
Der transnationale VA ist abzugrenzen vom supranationalen VA. Dieser wird im Unterschied zum transnationalen VA nicht von einem (Mitglied-) Staat erlassen, sondern von den Organen der EU. Der supranationale VA ist damit dem Direktvollzug durch die EU zuzuordnen (s.o. Rn 155). Er ist ebenfalls spezifische Folge der Supranationalität der Europäischen Union (s.o. Rn 51).
11. Der fiktive Verwaltungsakt
404
Unter einem fiktiven[199] VA ist die Situation zu verstehen, dass das Gesetz an das Schweigen oder das Nichtstun einer Behörde regelmäßig nach Ablauf einer bestimmten Frist nach Antragstellung eine bestimmte Rechtsfolge knüpft. Der VA gilt als erteilt. Von einem fiktiven VA ist in diesem Zusammenhang deshalb zu sprechen, weil behördliches Schweigen keine Maßnahme und damit keinen VA darstellt (s.o. Rn 299). Die Fiktion tritt nicht ein, wenndie Behörde vor Fristablauf entscheidet. Das Gleiche gilt, wenn die betreffenden Antragsunterlagen unvollständig sind. Denn nur bei Vollständigkeit der Unterlagen wäre sie in der Lage, eine Sachentscheidung zu treffen.
405
Der Gesetzgeber nutzt die Rechtsfigur des „fingierten VA“ relativ häufig. Aus Gebieten des öffentlichen Rechts, die für Studierende relevant sind, seien folgende Beispieleerwähnt:
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§ 6 Abs. 4 S. 4 BauGB: die Genehmigung eines Flächennutzungsplans gilt als erteilt, wenn die Behörde sie nicht innerhalb einer Frist von drei Monaten unter Angabe von Gründen ablehnt; |
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§ 15 Abs. 1 S. 5 PBefG: die Genehmigung gilt als erteilt, wenn sie nicht innerhalb der Frist versagt wird; |
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§ 2 Abs. 6a BFStrG: fiktive Widmung einer Bundesfernstraße durch Verkehrsübergabe. |
c) Insbes. die Genehmigungsfiktion nach § 42a VwVfG
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Erheblichen Auftrieb erhalten hat die Figur des fiktiven VA durch die Normierung der Genehmigungsfiktion in § 42a[200]. Damit wurde die europäische Dienstleistungsrichtlinie in innerstaatliches Recht umgesetzt. Nach § 42a Abs. 1 S. 1 gilt eine Genehmigung nach Ablauf einer für die Entscheidung festgelegten Frist als erteilt, wenn dies in einer Rechtsvorschrift vorgesehen ist und der Antrag hinreichend bestimmt ist. Aus der ersten Voraussetzung ergibt sich, dass § 42a selbst keinen Anwendungsbefehlenthält. Dieser muss sich vielmehr aus dem einschlägigen Fachrechtergeben. Einen entsprechenden Anwendungsbefehl enthält etwa § 6a GewO[201]. Die zweite Anforderung – die hinreichende Bestimmtheit des Antrags – ist dem Umstand geschuldet, dass die fiktive Genehmigung eine tatsächliche ersetzen soll. Hier wie dort muss aber klar umschrieben sein, was letztlich erlaubt ist.
d) Verfahrensrechtliche Folgeprobleme
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Aus dem Wesen der Fiktion folgt, dass die fingierte Genehmigung einer tatsächlich erteilten gleichsteht. Dies führt zu einigen Folgeproblemen[202]. Denn die Fiktion tritt unabhängig von der Rechtmäßigkeit der (fingierten) Maßnahme ein. Hier stellt sich die Frage, unter welchen Voraussetzungen die fingierte Genehmigung wieder aufgehobenwerden kann (dazu allgemein Rn 609 ff).
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Darüber hinaus hat der Antragsteller ein Interesse daran zu erfahren, ob und wann die Fiktion eingetreten ist. § 42a Abs. 3 sieht daher vor, dass der Eintritt der Fiktionswirkung dem Antragsteller auf Verlangen zu bescheinigen ist. Diese Bescheinigungist mangels Regelungswirkung kein VA, da lediglich auf eine anderweitige Regelung – den Eintritt der Fiktionswirkung – hingewiesen wird. Anders wird man jedoch entscheiden müssen, wenn die Behörde die Bescheinigung mit der Begründung verweigert, die Fiktion sei nicht eingetreten, etwa weil der Antrag nicht hinreichend bestimmt war. In einem solchen ist eine (verfahrensbezogene) Regelung anzunehmen. Schließlich können auch Drittevon der fingierten Genehmigung betroffen sein. Da die Fiktionswirkung aber mit Ablauf der Frist kraft Gesetzes eintritt, erfahren sie nicht unmittelbar von deren Eintritt. Die Frist zur Einreichung eines Rechtsbehelfs wird aber grundsätzlich nur durch die Bekanntgabe eines VA ausgelöst (zur Bekanntgabe allgemein Rn 435 ff).
12. Der automatisierte Verwaltungsakt
a) Stufen der Automatisierung
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Der stetig zunehmende technische Fortschritt erfasst auch das allgemeine Verwaltungsrecht[203]. Die damit verbundene Automatisierung hat mehrere Stufen durchlaufen: Im Jahre 2002/03 wurde die Übermittlungelektronischer Dokumente in § 3a und in § 37 Abs. 2 S. 1 die elektronische Form anerkannt. Ein subjektives Recht auf elektronische Verfahrensabwicklung hat erstmals im Jahre 2008 in § 71e Einzug in das VwVfG gehalten, war allerdings begrenzt auf das Verfahren vor der einheitlichen Stelle nach §§ 71a ff (s.o. Rn 178). Einen besonders bedeutsamen Schritt der Elektronisierung des Verwaltungsfahrens markierte im Jahre 2013 das E-Government-Gesetz des Bundes. Neben Verpflichtungen zur elektronischen Zugangseröffnung und zur elektronischen Aktenführung wurden dabei auch die Möglichkeiten zur Ersetzung der Schriftform nach § 3a erweitert. Denn die bis dahin erforderliche qualifizierte elektronische Signatur hatte bei Privatpersonen nur geringe Verbreitung gefunden[204]. Den vorläufigen Höhepunkt in dieser Entwicklung bildet die Anerkennung des vollautomatisierten VA im Jahre 2017[205].
b) Der teilautomatisierte Verwaltungsakt
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Bereits heute ist der teilautomatisierte VA Verwaltungswirklichkeit. Er zeichnet sich dadurch aus, dass einzelne Verfahrensschritte automatisiert sind. Beim teilautomatisierten werden die allgemeinen Verfahrensgebote des VwVfG teilweise modifiziert: So kann nach § 28 Abs. 2 Nr. 4 von einer Abhörung abgesehen werden (zur Anhörung ausf. Rn 491 ff); und gemäß § 39 Abs. 2 Nr. 5 kann eine Begründung des VA unterbleiben (zur Begründung ausf. Rn 513 ff). Da diese Verfahrensgebote aber jeweils ein rechtsstaatliches Fundament aufweisen, sind die Ausnahmen von ihnen jeweils restriktiv auszulegen, zumal die Nutzung elektronischer Kommunikationsmittel ohnehin bereits mit erheblichen Verfahrenserleichterungen verbunden ist[206].
c) Der vollautomatisierte Verwaltungsakt
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Der vollautomatisierte VA wurde im Jahre 2017 in erster Linie im Hinblick auf Besteuerungsverfahren entwickelt (vgl. § 155 Abs. 4 AO). Er unterscheidet sich vom bereits verbreiteten teilautomatisierten VA dadurch, dass er vollständig durch automatisierte Einrichtungen erlassen wird[207]. Dies mag im Besteuerungsverfahren seine Berechtigung haben; denn dabei handelt es sich in vielen Bereichen um standardisierte Massenverfahren. Im Zuge des Gesetzes zur Modernisierung des Besteuerungsverfahrens ist der vollautomatisierte VA jedoch auch in § 35aaufgenommen worden (hierzu bereits Rn 293und Rn 296bei den VA-Merkmalen).
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