49
Komplizierter gestaltet sich das Verhältnis des Verwaltungsrechts zum Europarecht. Dies liegt nicht zuletzt daran, dass im Studienablauf die Vorlesung zum Europarecht oftmals nach oder allenfalls zeitgleich mit derjenigen zum Allgemeinen Verwaltungsrecht angeboten wird. Da das Europarecht zunehmend das Verwaltungsrecht beeinflusst (Stichwort: „Europäisierung des Verwaltungsrechts“), sind gewisse Grundkenntnisse für das Verständnis des Allgemeinen Verwaltungsrechts aber zumindest förderlich.
a) Begriff des Europarechts
50
Dies gilt jedenfalls für das Recht der Europäischen Union, das auch als Europarecht im engeren Sinnebezeichnet wird. Hingegen versteht man unter dem Europarecht im weiteren Sinne das Recht aller europäischen internationalen Organisationen[33]. Im Folgenden sollen daher zum besseren Verständnis der europarechtlichen Beeinflussung des Verwaltungsrechts die Grundbegriffe des Europarechts im engeren Sinne kurz skizziert werden.
b) Wesen der Europäischen Union
51
Die Besonderheit des Europarechts im engeren Sinne liegt darin, dass es sich bei der Europäischen Union um eine supranationale Einrichtunghandelt. Sie kann daher im Unterschied zu sonstigen internationalen Einrichtungen im Rahmen der ihr durch die Gründungsverträge zugewiesenen Kompetenzen einseitig hoheitliche Maßnahmen mit Verbindlichkeit für die Mitgliedstaaten erlassen[34]. Dabei bilden die Gründungsverträge und die ihnen gleichgestellten Rechtsquellen das sog. Primärrecht. Zu ihnen zählen insbes. der Vertrag über die Europäische Union (EUV) und der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) sowie die EU-Grundrechte-Charta. Das Primärrecht bildet die Summe derjenigen Rechtsquellen, durch welche die Union geschaffen wird. Im Gegensatz dazu versteht man unter Sekundärrechtdas von der Union nach Maßgabe des Primärrechts erlassene Recht[35]. Zum Sekundärrecht zählen gemäß Art. 288 AEUV insbes. Richtlinien und Verordnungen der Europäischen Union (dazu ausf. Rn 80ff).
c) Kompetenzen der Europäischen Union und deren Grenzen
52
Beim Erlass des Sekundärrechts ist die EU an das Primärecht, insbes. an die Schrankentrias des Art. 5 EUVgebunden. Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung gemäß Art. 5 Abs. 2 EUV wird die Union nur im Rahmen der ihr übertragenen Kompetenzen tätig. Wird sie entsprechend ermächtigt, so muss sie den Subsidiaritätsgrundsatz und den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz beachten. Der in Art. 5 Abs. 3 EUV verankerte Subsidiaritätsgrundsatz bezieht sich auf das „Ob“ und besagt, dass die Union nur tätig werden darf, wenn die betreffende Maßnahme auf Unionsebene besser als auf Ebene der Mitgliedstaaten verwirklicht werden kann. Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist dem Subsidiaritätsgrundsatz nachgelagert und bezieht sich auf das „Wie“ einer Maßnahme. Er erfordert nach Art. 5 Abs. 4 EUV, dass die Maßnahme nicht über das zur Erreichung der Ziele der Verträge erforderliche Maß hinausgehen darf[36].
d) Grundsätze bei der Anwendung des Unionsrechts
53
Werden die zuvor aufgezeigten Grundsätze beachtet und auch sonstiges primäres Unionsrecht eingehalten, so genießt das Sekundärrecht der Union – ebenso wie das Primärecht – einen Anwendungsvorranggegenüber etwaig widersprechenden Regelungen des nationalen Rechts[37]. Die betreffende Regelung des nationalen Rechts wird also – anders als grundsätzlich beim Verstoß eines Gesetzes gegen das Grundgesetz[38] – nicht ungültig, bleibt aber unanwendbar. Seine rechtsdogmatisch konsequente Fortentwicklung findet der Anwendungsvorrang im Äquivalenzprinzip und im Effektivitätsprinzip: Nach dem eher unproblematischen Äquivalenzprinzipdürfen unionsrechtlich begründete oder angereicherte Sachverhalte nicht ungünstiger als rein innerstaatlich begründete Sachverhalte behandelt werden. Das – in der Praxis sehr bedeutsame – Effektivitätsprinzipbesagt, dass das Unionsrecht bei der Anwendung nicht praktisch unmöglich oder erheblich erschwert werden darf. Anders ausgedrückt, das Unionsrecht muss auch möglichst wirksam angewendet werden. Seine Abrundung findet der Anwendungsvorrang schließlich im Gebot unionsrechtskonformer Auslegung: Belässt das innerstaatliche Recht entsprechende Spielräume, so ist in solchen Konstellationen diejenige Auslegung vorzuziehen, die in Einklang mit dem Unionsrecht steht[39].
IV. Bedeutsame Einteilungen des Verwaltungsrechts
1. Allgemeines und Besonderes Verwaltungsrecht
54
Die Einleitung erwähnte bereits die Unterscheidung zwischen dem „Allgemeinen“ und dem „Besonderen“ Verwaltungsrecht (s.o. Rn 3). Diese Differenzierung ist bereits bekannt aus dem BGB und dem StGB. Sie kennzeichnet auch das Verwaltungsrecht. Der Unterschied zwischen dem Verwaltungsrecht auf der einen und dem BGB/StGB auf der anderen Seite besteht darin, dass das „Allgemeine“ und das „Besondere“ Verwaltungsrecht nicht weitgehend in einer Gesamtkodifikation zusammengefasstsind, sondern dass sich diese Materien in einer Vielzahl von Gesetzen zerstreut geregelt wiederfinden. Die Arbeitserleichterung, die eine Gesamtkodifikation ermöglicht, fehlt somit im Verwaltungsrecht. Für Teilbereiche des Verwaltungsrechts, insbes. für das das Umweltrecht, wurde mehrfach an Teilkodifikationen gearbeitet. Eine umfassende Kodifikation des gesamten Verwaltungsrechts ist aber wohl nicht vorstellbar: Zu unterschiedlich sind die zu regelnden Gegenstände, zu groß ist die Normenmenge, ferner sind die auf Bund und Länder verteilten Gesetzgebungskompetenzen einer einheitlichen Kodifikation hinderlich.
55
Dem Allgemeinen Verwaltungsrechtwerden diejenigen Aussagen des Verwaltungsrechts zugeordnet, die prinzipiell für alle Bereiche des Verwaltungsrechtsgelten. Diese Aussagen betreffen im Wesentlichen das für eine Entscheidungsfindung zu beachtende Verfahren, die Form, in der eine Verwaltungsentscheidung ergehen kann (Handlungsformenlehre), sowie die Kontrolle und den Vollzug von Verwaltungsentscheidungen. Das Besondere Verwaltungsrechtenthält das Recht zur Lösung der der Verwaltung übertragenen Probleme in besonderen Sachbereichen[40]. Diese Sachbereiche sind mannigfaltig. Dieses spiegeln die Gesetze, die Besonderes Verwaltungsrecht enthalten, wider: Sie reichen – wie die alphabetische Schnellübersicht des Sa. I demonstriert – vom Abfallrecht über das Hochschulrecht bis hin zum Waffen- und Zivilschutzrecht.
56
Im Hinblick auf die Examensrelevanzgilt: Das Allgemeine Verwaltungsrecht muss beherrscht werden, dabei will dieses Buch helfen; das Besondere Verwaltungsrecht muss hingegen lediglich in wenigen Teilbereichen bekannt sein: das Allgemeine Recht der Gefahrenabwehr und Teile des Baurechts sowie im Überblick das Kommunalrecht[41].
2. Außenrecht und Innenrecht
57
Eine weitere für das Recht der Verwaltung bedeutsame Differenzierung betrifft die Unterscheidung von Außenrecht und Innenrecht. Sie ist an den verschiedenen Adressatendes Verwaltungsrechts orientiert. Das Außenrecht erfasst diejenigen Rechtsnormen, welche die Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat auf der einen Seite und den Bürgern bzw sonstigen Rechtspersonen auf der anderen Seite regeln. Das Verwaltungsrecht ist in seinen wesentlichen Teilen Außenrecht; die Rechtsbeziehungen zwischen dem Bürger und dem Staat bilden seinen Schwerpunkt. Das Innenrecht wird auch als intrapersonales Recht, das Außenrecht als interpersonales Recht bezeichnet.
Читать дальше