1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Wahl und Richez erwähnen sogar Zeugnisse, gemäß derer „die Inhaber der Karte A sich darüber empörten, dass die Inhaber der Karte B ihnen nicht den Vortritt in den Warteschlangen lassen mussten“ 97. Diese Unterscheidung hatte auch unmittelbare finanzielle Auswirkungen, denn die Inhaber der Karte A profitierten von einem vorteilhaften Kurs von 1,25 FF für 1 Mark (im November waren es noch 1 Mark für 0,60 FF) 98, während der Standardkurs bei 0,80 FF für 1 Mark für die anderen lag. Indem die Behörden die feindlichen und die alliierten oder neutralen Ausländer voneinander unterschieden und indem sie Kindern, von denen ein Elternteil deutsch war, auch wenn sie im Elsass geboren worden waren, eine Unterkategorie (B) zuschrieben, stigmatisierten sie sie gemäß ihrer Abstammung. Dies stellt in der Geschichte der Republik einen einmaligen Fall dar, der sich weit von der französischen Tradition des Staatsbürgerschaftsrechts entfernt. Immerhin scheint es klar, dass diese Maßnahmen ihrem Ursprung nach ein direktes Erbe antideutscher Feindseligkeiten sind, die sich während des Krieges radikalisiert und biologisiert haben, und die, so scheint es, anschließend die elsässische Bevölkerung erreichten. Zweifellos reihen sich diese Maßnahmen eher in eine Kontinuität mit dem Ersten Weltkrieg ein, als dass sie die diskriminierende und klassifizierende Gesetzgebung des Vichy-Regimes ankündigen 99.
Tatsächlich dienten die Karten auch zur Unterstützung bei der Ausweisung der Deutschen aus dem Elsass. Im Fall Straßburgs schätzt François Uberfill die Anzahl der Ausgewiesenen auf 28.000 bis 29.000 zwischen November 1918 und Ende 1921, wobei der Großteil von ihnen zwischen November 1918 und November 1919 ausgewiesen wurde. Die Anzahl der ausgegebenen Karten D betrug 31 200 für die elsässische Hauptstadt.
Im Juni 1919 wird gemäß dem Wunsch des Generalkommissars Millerand eine neue Institution geschaffen 100: die Sonderkommission zur Prüfung der Ausländer (Commission spéciale d’examen des étrangers – CSE), die die von der Armee eingerichteten Auswahlkommissionen ablöst. Sie soll die Denunziationsfälle behandeln und die Fälle derjenigen, die aus dem ein oder anderen Grund im Elsass bleiben möchten.
Die Gesamtanzahl der Ausgewiesenen für das Elsass ist schwierig festzustellen, umso mehr als die Archive lückenhaft sind und die Angelegenheit von elsässischen Autonomisten wie von Vereinigungen ausgewiesener Deutscher instrumentalisiert wurde. Gemäß François Uberfill erscheint die Zahl von 129.000 Vertriebenen oder ‚freiwillig‘ Repatriierten plausibel, die in einer Sammelpublikation aus den 1930er Jahren mit dem Titel Das Elsass 1870–1932 auftaucht. Für A. Wahl und J.-C. Richez beläuft sich die Gesamtanzahl auf 100.000 101.
Während sich die Vertreibungen in ihrer symbolischen Dimension sowohl in die Geschichte des Elsass als auch in diejenige des Ersten Weltkrieges einordnen lassen, erfüllten sie darüber hinaus eine nachgeordnete, aber ebenfalls sehr wichtige Funktion als Mittel, um die Situation der elsässischen Bevölkerung in dieser Zeit der Krisen, des Mangels und der Arbeitslosigkeit zu verbessern: Die Vertreibungen befreiten den Kaufmann von einem Konkurrenten, boten dem Arbeitslosen eine Stelle etc.
Unter dieser Masse von Vertriebenen und Repatriierten erhielten einige mehr Aufmerksamkeit als andere. Die deutschen Eliten beispielsweise wurden sehr systematisch ausgewiesen und wurden Objekt von Spezialbehandlung und Spezialkonvois, von denen die bekanntesten und symbolhaftesten jene der Hochschullehrer der Straßburger Kaiser-Wilhelm-Universität sind 102. Von den deutschstämmigen Professoren schaffte es nur Werner Wittich, aufgrund seiner Ehe und seiner Verbindungen, vor Ort zu bleiben, allerdings verlor er seinen Posten an der Universität.
Die deutsche Universität und Wissenschaft blieb verbunden mit ihrer Rolle, die sie bei der Germanisierung des Elsass gespielt hatte, sowie mit der Erinnerung an das Manifest der 93 im Jahr 1914 und an den Gaskrieg, der die Alliierten aufs Äußerste empört hatte. Der deutsche Professor hatte während des Krieges ein sehr mächtiges und mobilisierendes Feindbild dargestellt. Der Boykott, der die deutsche Wissenschaft in den Nachkriegsjahren traf, ist auch sehr eng mit diesen Erinnerungen verbunden, und die Behandlung der Hochschullehrer in Straßburg fügt sich somit in einen allgemeineren Kontext ein.
1918–1919 wird der Krieg also auf dem regionalen Niveau des Elsass sowie auf deutschem Territorium im Milieu der aus dem Elsass vertriebenen Deutschen fortgesetzt, die die Frage Elsass-Lothringens – mit sehr begrenztem Erfolg 103– auf der Agenda der großen Politik zu halten versuchen. In den Jahren unmittelbar nach dem Krieg hingegen findet diese Fortsetzung des Krieges dann an anderen Fronten statt. Dies steht nicht notwendigerweise im Widerspruch zum Willen, zum Alltagsleben zurückzukehren und somit eine rasche Demobilisierung einleiten zu können, die von weiten Teilen der deutschen und französischen Veteranen und Zivilisten gewünscht wird.
33Arnold Gehlen zitiert nach BREUER 1996 [486], S. 8.
34Über die Debatten, die sie hervorrufen, siehe II.8.
35BEAUPRÉ 2006 [741], REIMANN 2000 [384].
36KOSELLECK 1990 [100].
37FREUD 1915 [46].
38Die Debatten um diesen Begriff zählen zu den spannendsten der letzten Jahre. AUDOIN-ROUZEAU/BECKER 1997 [266]. Vgl. den Abschnitt 2.6. der Bibliographie.
39Le Petit Provençal vom 12. November 1918, zit. von LE NAOUR 2005 [358], S. 125.
40Zitiert nach BEAUPRÉ 2006 [741], S. 34.
41Über das Jahr 1917, u.a.: BECKER 1997 [281].
42Zitiert nach DEMM 1999 [310], S. 363. Siehe auch LINDNER-WIRSCHING 2004 [361]und BEAUPRÉ 2006 [741].
43AUDOIN-ROUZEAU/BECKER 2000 [262], S. 182–195.
44GEYER 2006 [325], S. 41.
45BECKER 1997 [281], S. 105–111.
46PEUKERT 1987 [217], S. 36; GAY 1993 [199], S. 25.
47Die Zahlen stammen aus R. Ia. Ezerov, I. P. Mador, T. T. Timofeev, zit. von CHARLE 2001 [166], S. 285.
48ZIEMANN 2004 [426], S. 142–144.
49LIULEVICIUS 2002 [362], S. 189–217.
50VINCENT 1985 [405], S. 124–156.
51ZIEMANN 2004 [426], S. 144–145; ZIEMANN 1999 [421].
52DUMÉNIL 2004 [316], S. 235.
53Ebd., S. 229.
54ZIEMANN 1999 [421], S. 182.
55GEYER 2001 [323], S. 475.
56Ebd., S. 502.
57DEIST 1986 [305]und DEIST 1992 [306].
58DUMÉNIL 2004 [316], S. 255.
59PEUKERT 1987 [217], S. 168.
60HAFFNER 2002 [50], S. 26.
61Ebd., S. 29.
62GEYER 2001 [323], S. 489.
63DUMÉNIL 2004 [316], GEYER 2004 [324].
64LE NAOUR2005 [358], S. 114
65CABANES 2004 [294], S. 24.
66Ebd., S. 32.
67RENOUVIN 1968 [386].
68KRUMEICH 2004 [351], S. 981.
69Ebd., S. 987.
70Kapitel II.3 bis II.5.
71DELPAL 2001 [309].
72Siehe Kapitel II.6.3.
73Es gibt nur ein Überblickswerk zu diesem grundlegenden Problem: VINCENT 1985 [405]. Zu den Auswirkungen der Blockade in Berlin: WINTER/ROBERT 1997 [419], S. 305–341 und 487–523.
74Die Zahlen stammen alle aus WINTER/ROBERT 1997 [419], S. 487–524.
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