Seit Shaco offenes Interesse an ihr gezeigt hatte, hielten sich alle anderen Jungen von ihr fern. Nur Jimmy wechselte hin und wieder einige Worte mit ihr; er schien aus der Entfernung immer eine schützende Hand über sie zu halten und Shaco damit zunächst von weiteren Zudringlichkeiten abzuhalten. Aber Rawanni glaubte nicht, dass der Respekt, den alle Jimmy entgegenbrachten, allein von seiner körperlichen Stärke herrührte. Shaco wäre ihm mit seinen Leuten doch weit überlegen. Es musste noch etwas anderes geben, was sie davon abhielt gegen ihn vorzugehen. Längere Gespräche mit Jimmy verhinderte regelmäßig Rachel, weil sie in Rawanni eine Rivalin sah.
Zwei Wochen später erkundigte sich Long nach ihren Fortschritten und ob sie in einem Fach Probleme hätte. Er war immer bemüht, benachteiligten Schülern Hilfe anzubieten. Bisher kam Rawanni ganz gut zurecht, aber sie musste dafür auch einiges tun, wobei ihr Pete, Dan, Peggy und Jeff immer hilfreich zur Seite standen.
Wenige Minuten nach ihrem Gespräch mit Long verließ sie das Gebäude. Es war Schulschluss und die meisten Schüler waren bereits gegangen, nur einige standen noch in Grüppchen rauchend und plaudernd zusammen.
In der Nähe des Parkplatzes vernahm sie Geräusche. Sie ging weiter und entdeckte hinter einigen Büschen Shaco und seine drei Freunde, die einen Jungen bedrängten, der nicht älter als 13 oder 14 sein mochte. Shacos Hand klatschte gerade ins Gesicht des verängstigten Burschen, wobei seine Brille auf den Boden fiel.
„Hey“, rief Rawanni und eilte näher, „lass ihn sofort los!“
Shaco sah hoch, hielt den Jungen aber weiterhin an seiner Jacke fest im Griff. Die anderen drei drehten sich zu ihr um, zu allem bereit, was ihr Anführer befehlen würde.
„Lass ihn los!“, wiederholte sie schärfer. „Kannst du dich nur an Schwächeren vergreifen?“
Shaco ließ den Jungen mit einem Ruck zu Boden fallen. Auf seinem Gesicht breitete sich ein gieriges Lächeln aus. Er fand in Rawanni ein vermeintlich neues, willkommenes Opfer. Der Junge stolperte eilig davon als er merkte, dass Shacos Interesse an ihm erloschen war.
„Oh, ich lasse ihn gerne los, denn du interessierst mich weit mehr“, säuselte Shaco süß und näherte sich Rawanni, die reglos stehen blieb und ihm fest in die Augen sah.
„Warum hast du den Jungen geschlagen?“, fragte sie mit ruhiger Stimme.
„Weil es mir Spaß macht.“
Kess, Lee und Trey kicherten und begannen sie einzukreisen. Shaco nahm ihr die Tasche aus der Hand, warf sie beiseite und drängte sie gegen einen Baum.
„Was willst du, Shaco?“ Sie verhielt sich immer noch ruhig, zeigte keine Angst. „Willst du mir jetzt Gewalt antun?“
Seine Augen funkelten verlangend. Er umfasste mit der Hand ihren Nacken und löste mit der anderen das Band, das ihre Haare zusammenhielt. „Ich will dich“, hauchte er voller Erregung, „dein Jimmy kann dir jetzt nicht helfen.“ Er senkte langsam seinen Kopf, um sie zu küssen, während er ihr in die Augen sah.
„Lass es, Shaco!“, zischte sie jetzt scharf und in ihren Augen blitzte es kämpferisch auf.
Er grinste sie nur lüstern an. Diese Gelegenheit wollte er auskosten.
Da rammte Rawanni ihm das Knie zwischen die Beine. Schmerzvoll stöhnte er auf und taumelte zurück. Jetzt zeigte sich, wie gut ihr bisheriges Kampftraining war. Sie wartete nicht, bis er sich erholt hatte, sondern schlug ein zweites Mal zu. Ihre Faust traf gegen sein Kinn, ein kräftiger Tritt holte ihn von den Füßen. Sie wirbelte herum und attackierte nun Kess, der nächste Fußtritt traf Lee. Trey stolperte erschrocken rückwärts und fiel von selbst zu Boden, suchte schließlich das Weite.
Rawanni blieb in Kampfposition stehen und wartete. Kess und Lee rappelten sich wieder auf und blickten zu ihrem Anführer, der sich noch immer von Schmerzen gepeinigt auf dem Boden krümmte und die Hände in seinen Schritt presste.
„Du verstehst wohl nur Gewalt?“, fauchte sie ihn bissig an. „Aber damit bist du bei mir an der falschen Adresse, Shaco. Lass mich in Ruhe, dann können wir auch Freunde werden.“
Niemand sagte etwas und Rawanni entspannte sich wieder. „Und schlage niemals wieder diesen Jungen oder andere“, fügte sie in weit weniger strengem Ton hinzu. Sie hob ihre Tasche auf und drehte sich zum Gehen.
„Du Miststück!“, prustete er wutschnaubend.
Sie lächelte mit sanfter Miene. „Nein Shaco, das bin ich nicht.“ Sie ging.
Bis nach Hause waren es sechs Meilen, die sie diesmal lieber zu Fuß zurücklegte, weil sie sich schlecht fühlte und nachdenken musste. Sie hatte gegen drei Menschen Gewalt angewendet.
Jeff bemerkte gleich ihre gedrückte Stimmung, als sie das Haus betrat, aber Rawanni wollte lieber allein sein und zog sich auf ihr Zimmer zurück.
Als sie nicht zum Abendessen erschien, klopfte Jeff besorgt an ihre Tür. „Rawanni, was ist los?“, fragte er durch die geschlossene Tür. „Wenn du Probleme hast, sprich mit mir. Ich höre dir zu und wir werden eine Lösung finden.“
Sie öffnete die Tür und ging zurück zum Bett. Er setzte sich zu ihr und legte väterlich den Arm um ihre Schulter. Dann erzählte sie ihm das Geschehene.
„Du hast richtig gehandelt“, versuchte er sie zu beruhigen, als sie geendet hatte. „Du hast dem Jungen geholfen, und um dich selbst zu schützen musstest du dich verteidigen. Warum macht dir das zu schaffen?“
„Wenn ich zuschlage, bin ich doch genauso wie er.“
„Nein, das bist du nicht, Rawanni. Er wendet Gewalt aus ganz anderen Motiven an. Ihm macht es Spaß, über andere auf diese Weise Macht auszuüben, er fühlt sich dabei stark. Du hast doch versucht ihn mit Worten davon abzuhalten, es hat nur nichts genützt. Nur ein stärkerer Gegner kann ihn stoppen.“
Rawanni lächelte bitter. „Wie soll ich ihm denn morgen in der Schule gegenübertreten? Soll ich etwa noch einmal zuschlagen?“
„Wenn es sein muss, ja. Trotzdem mahne ich zur Vorsicht. Dieser Shaco ist offenbar nicht zu unterschätzen und er ist nicht allein. Wir könnten ihn allerdings auch wegen versuchter Vergewaltigung festnehmen. Ich überlasse dir die Entscheidung; du wirst schon die richtige treffen, so wie heute auch.“
„Ach Jeff! Was ist, wenn er stärkere Geschütze auffährt?“
„Dann schicke ich dir ein Sonderkommando“, entgegnete er scherzend.
Es beruhigte sie wenig und sie legte seufzend den Kopf an seine Schulter.
„Ich verstehe dich ja“, sagte er, „aber du musst als angehende Polizistin lernen härter zu werden, wenn du dich gegen Verbrecher behaupten willst, sonst wirst du verlieren. Eine gewisse Skrupellosigkeit ist in unserem Beruf notwendig.“
„Aber es muss doch nicht immer mit Gewalt geschehen?“
„Nein, natürlich nicht, aber du musst sie in gewissen Situationen auch einsetzen können, ohne zu zögern. Denn wenn du zögerst, nur weil du Gewalt verhindern willst, könntest du schnell tot sein. Jeder Mensch ist zu Gewalt fähig — der eine mehr, der andere weniger. Die unterschiedlichsten Ereignisse können sie zum Ausbruch bringen. Für einige ist sie manchmal sogar wie eine Sucht, nur durch Gewalt können sie sich selbst befriedigen, ihr Selbstwertgefühl steigern. Zu diesen Menschen gehört wahrscheinlich auch Shaco. Durch Gewalt fühlt er sich stark. Die Gründe dafür können bereits in seiner frühen Kindheit liegen. Vielleicht wurde er von seinem Vater geschlagen.“
„Musstest du schon einmal Gewalt anwenden?“
„Ja, in meinen ersten Jahren, als ich im Außendienst tätig war. Ich hatte einen Mann gestellt, der kurz zuvor seine Frau getötet hatte. Ich wollte ihn festnehmen, als er plötzlich einen versteckten Revolver an seinem Fußgelenk hervorzog. Ich schoss einen Bruchteil früher und traf ihn tödlich. Hinterher war ich so fertig, dass ich tagelang nicht schlafen konnte. Ich musste danach zum Polizeipsychologen, was in solchen Fällen immer obligatorisch ist. Ich glaube, ohne die Hilfe des Arztes hätte ich dieses Trauma nicht überwunden. Als Polizist muss man natürlich ständig aufpassen, sein eigenes Gewaltpotenzial unter Kontrolle zu halten. Man kann nicht einfach zuschlagen, nur weil einen ein Verbrecher in Rage gebracht hat, dann wäre man nicht besser als die. Bei Benutzung einer Schusswaffe ist dies umso wichtiger. Selbst Gewalt anzuwenden, ist aber leider nicht immer vermeidbar.“
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