„Du sagtest doch, dass Oskar den gefangenen Wächter und seine Gefährtin verhört hat. Er war ein Teufel auf diesem Gebiet! Ich verstehe einfach nicht, warum er aus den beiden nichts rausbekommen hat. Zumindest die Frau hätte unter Folter doch den Standort der Wächter verraten müssen.“
„Euer Bruder hat mich nicht ohne Grund zu seinem Stellvertreter gemacht. Ich könnte Euch sehr nützlich sein und dieses Gebiet überaus profitabel verwalten.“
Aha, jetzt spielte Boris seinen Trumpf aus.
„Wenn Ihr die Frau wollt, kann ich Euch vielleicht helfen, aber dazu bräuchte ich ein paar Eurer Kämpfer.“
„Du verlogener Hund! Hältst du etwa Informationen zurück?“ Wutentbrannt packte er Boris und drückte ihm brutal die Kehle zu, während er seine Taschen durchsuchte. Er fand allerdings nur einen handgeschriebenen Zettel, auf dem eine Handynummer und ein Vorname standen.
„Woher stammt der und wer ist Sarah?“
Ungern, aber notgedrungen lockerte er seinen Griff.
„Den hatte die Gefährtin bei sich, aber es gelang uns nicht, den Nachnamen oder die Adresse zu lokalisieren.“
„Und das zeigt mir wieder, was für ein dilettantischer Haufen ihr wart! Aber damit ist jetzt Schluss!“
Er stieß Boris weg, der keuchend nach Luft rang.
„Ich habe einen äußerst talentierten Computerspezialisten rekrutiert, wenn auch gegen seinen Willen. Der wird sich um diese Nummer hier kümmern. Christian ist zwar nur ein Mensch, aber wenn es um das Leben seiner Familie geht, kann er sehr ehrgeizig werden.“
Raúls Augen verengten sich zu Schlitzen und er streckte seinen Zeigefinger zu Boris aus. „Und was dich angeht: Dir gebe ich sogar meine vier besten Männer mit und die werden dafür sorgen, dass du wieder zu mir zurückkommst! Und falls du ohne die Frau hier auftauchst, wirst du Hassan um sein Schicksal beneiden! Haben wir uns verstanden?“
Unter größten Qualen wachte Hassan in einer finsteren, stinkenden Zelle wieder auf. Im gleichen Augenblick zog jemand an seinem Bein. Ein gleißender Schmerz durchfuhr ihn und er verlor erneut das Bewusstsein. Was er als Nächstes mitbekam, war das Schluchzen seiner Mutter.
„Es tut mir leid, Hassan. Es tut mir so leid. Aber ich muss deine gebrochenen Knochen richten, bevor sie schief zusammenwachsen.“
Sie holte zitternd Luft und brachte seinen Unterarm wieder in die richtige Position. Der Schmerz explodierte wie ein Stromschlag. Mit eisernem Willen unterdrückte er jedes Stöhnen. Dennoch hörte sie nicht auf zu schluchzen, während sie fortfuhr, und das schmerzte ihn fast noch mehr.
Seine Mutter war immer hart im Nehmen gewesen. Ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie Sklavin in Byzanz gewesen war, bevor sie von einem Vampir, seinem späteren Vater, befreit wurde. Doch nach Jahren der Gefangenschaft durch Ramón versiegte sogar ihr Lebenswille.
Er war gezwungen, Ramón bedingungslos zu dienen, andernfalls bestrafte man seine Mutter vor seinen Augen. Falls er einen Fluchtversuch wagte, würde man sie sehr langsam und grausam töten.
Raven, seinem tragischen Vorgänger und unfreiwilligem Ausbilder, war es ebenso ergangen. Doch Raven hatte vor Ramón nur eine Show abgezogen und seiner Mutter in Wahrheit nie ein Haar gekrümmt. Für alle unsichtbar war – hinter Ramóns Rücken und unter seiner brutalen Gewalt – eine felsenfeste Freundschaft zwischen ihnen entstanden. Doch als Raven mit Rose und Alice floh, hatte er zurückbleiben müssen, da seine Mutter, wie fast immer, an einem anderen Ort festgehalten worden war.
Seine Mutter wischte sich die Tränen ab, als sie mit der Prozedur fertig war, und hielt ihm ihr Handgelenk hin.
„Diese Verbrecher haben dich völlig ausgehungert, du brauchst dringend viel Blut.“ Sie machte einen tiefen Atemzug und legte ihre Hand an seine Wange. „Hassan, mein Sohn, ich will, dass du dem endlich ein Ende setzt. Trink und hör nicht auf, bis der letzte Tropfen meines Blutes in dir ist. Ich kann nicht mehr ertragen, was du meinetwegen zu erleiden hast.“
„Ich wäre nicht dein Sohn, wenn ich dir dein Leben nehmen könnte.“ Doch das war kein Leben mehr für sie. „Ich finde einen Ausweg.“
„Es gibt keinen Ausweg, Hassan, und das weißt du auch.“
Er spürte, dass sie dabei war, endgültig zu zerbrechen.
Unter Schmerzen hob er seine Hand, an der eine schwere Kette hing und berührte ihre tränennasse Wange. Er tat das Einzige, was er für seine Mutter tun konnte – er ließ sie einschlafen.
Der Hunger nach Blut brannte wie ein Feuer in ihm, dennoch wagte er nur ganz wenig von seiner ohnehin geschwächten Mutter zu trinken. Sein Hunger würde ihn weiter quälen und seine Wunden nicht richtig verheilen, bis er eine andere Quelle fand. Was eingesperrt in dieser fensterlosen Zelle tief unter der Erde unmöglich war.
John stand immer noch auf der großen Steinterrasse und sah zu, wie das letzte Violett verblasste und sich die ersten Sterne am Abendhimmel zeigten, als Lara vom Garten auf das Haus zustrebte.
Sie sah entspannter aus. Das Arbeiten an der frischen Luft hatte sie anscheinend abgelenkt. Doch als sie nah genug war, um ihn zu erkennen, wurde ihre Haltung hart.
Auf der Terrasse angekommen, schlug ihm die Kälte in ihrem Gesicht wie eine Ohrfeige entgegen.
„Du siehst aus wie ein Gefängniswärter, der kontrolliert, ob die Gefangenen brav in ihre Zellen zurückkehren. Diese Rolle hast du dir selbst verschafft und ich hoffe, sie gefällt dir, denn etwas anderes wirst du in Zukunft nicht für mich sein!“
„Lara, ich wollte doch nur …“
„Mir meine Rechte vorlesen?“, fragte sie sarkastisch, „denn die hab ich hier wohl nicht.“ Etwas leiser fügte sie hinzu: „Ich komm nur rein, um den Akku aufzuladen.“
„Du kannst den Mahagonischreibtisch im Arbeitszimmer für dich haben.“ Er zeigte auf die Tür im Wohnzimmer, die dort hinführte. Der Impuls, sie stattdessen in die Arme zu schließen, ihr alles zu erklären, sie zu trösten, war beinahe übermächtig. Aber er spürte die unsichtbare Wand zwischen ihnen.
Ohne ein weiteres Wort ging sie mit energischen Schritten an ihm vorbei.
Lara hatte ihre Krallen geschärft und sich hart gemacht, um für ihre Freiheit zu kämpfen.
„Lara, bitte – wir sollten in Ruhe miteinander reden …“
Wütend wandte sie sich um. „Wärter und Gefangene plaudern nicht miteinander, das solltest du dir merken. Und nur damit du’s weißt: Ich habe in Physik aufgepasst! Ein Zaun, der unter Starkstrom steht, würde mich nicht aufhalten! Die Geflügelschere aus der Küche, deine Gummistiefel und dicken Lederhandschuhe aus dem Schrank – mehr bräuchte ich dazu nicht.“
Sie war ihre Flucht also schon im Geist durchgegangen.
Er erinnerte sich, wie sie die Mauer gemustert hatte, dort, wo Brennholz bis fast nach oben aufgestapelt war. Gut, dass er ihr vorhin nichts von der Lichtschranke erzählt hatte, die Alarm auslösen würde.
Als er ihr nachsah, wie sie im Arbeitszimmer verschwand, fragte er sich, ob er eben schnell den Brennholzstapel entfernen sollte. Denn selbst wenn sie auf die Mauer käme, könnte sie sich beim Sprung hinunter die Knochen brechen.
Doch etwas an ihrer Haltung ließ ihn innehalten: ihre Schultern – sie hingen frustriert herunter. Er erinnerte sich an Benedikts Worte vom Schmetterling, der sich selbst die Flügel zerstörte. Lara kämpfte verzweifelt und mit all ihrer Kraft gegen ihn an.
Durch die Symbiose spürte er ihre Wut ebenso wie eine tiefe Niedergeschlagenheit. Sein Herz krampfte sich bei dem Wissen zusammen, dass er an diesem Zustand schuld war. Er musste auf sie zugehen und einen Kompromiss aushandeln, andernfalls würde er unwiederbringlichen Schaden bei ihr anrichten. Außerdem war es höchste Zeit, Benedikts Rat zu beherzigen und seinen taktischen Verstand einzusetzen, um ihre praktischen Probleme zu lösen. Die zwischen einer Klaustrophobikerin, die weder Blut annehmen noch schenken wollte, und einem Vampir. Vermutlich die größte Herausforderung seines Lebens …
Читать дальше