Tödlich stand die untergehende Sonne noch orangerot am Horizont.
Instinktiv versuchte er, vor der Gefahr zurückzuweichen, aber der Mönch hielt ihn fest.
„Keine Angst. Du stehst unter meinem Schutz, solange meine Hand in deinem Nacken liegt. Dieser Sonnenuntergang ist mein Geschenk an dich. Sieh dir die wunderschönen Farben an und genieß die Wärme seiner Strahlen.“
Noch nie hatte er einen Sonnenuntergang ohne extrem dunkle Schutzverglasung, geschweige denn im Freien erlebt. Selbst die verspiegelte Badezimmerfront lag so, dass kein frontales Sonnenlicht bis in den Raum eindrang.
Er stand einfach nur da, schweigend, während ihm Tränen über die Wangen liefen, weil das Schauspiel der Natur ihn so ergriff. Langsam versank die Sonne rot glühend am Horizont und tauchte den Himmel dabei in ein wechselndes Spiel aus atemberaubenden Farben.
Erst jetzt brach Benedikt das Schweigen.
„John, du bist doch Taktiker, oder?“
Das wusste der Mönch sehr genau, deswegen nickte John nur.
„Und du bist ein leidenschaftlicher Schachspieler. Du betrachtest das Schachbrett vor dir, kalkulierst die Möglichkeiten aller Figuren und überdenkst dann – wie viele Züge mit all ihren Folgen im Voraus?“
Er hatte nie mitgezählt und grübelte noch, als Benedikt abwinkte.
„Na ja, jedenfalls eine Menge. Und du bist auch der Fachmann, den alle fragen, wenn es komplizierte Probleme mit mehreren Aspekten zu lösen gilt.“
„Du erzählst mir nichts Neues, Benedikt.“
„Nein, aber ich hoffe, dir eine neue Sichtweise zu geben.“
„Aber wie soll mir das helfen, Laras Herz zu gewinnen?“ Er gab sich keine Mühe, seinen Frust zu verbergen.
„Gute Frage.“
Benedikt sah ihn liebenswürdig, aber gleichzeitig wie ein Lehrer an, der seinen Schüler auf eine Lösung bringen will, die direkt vor seiner Nase liegt.
„Ich habe mir von Agnus erzählen lassen, wie Lara dich gerettet und dabei ihr Leben riskiert hat. Ich denke nicht, dass du erst ihr Herz gewinnen musst, denn das war keine Vernunftentscheidung, sondern Liebe, John.“
„Das war dumm! Und Lara hatte keinen Schimmer, worauf sie sich da einlässt!“
„Ach ja? Wusstest du nicht, das Agnus versucht hat, deine Lara aufzuhalten? Sie eindringlich gewarnt hat? Und er war nicht der Einzige. Liebe ist nicht der Punkt, John. Eure Liebe mag jung sein wie ein zartes Pflänzchen, das Pflege braucht und noch wachsen muss, aber eure erste Feuerprobe habt ihr bereits bestanden.“
„Aber siehst du denn nicht die Probleme, die wir miteinander haben?“
Benedikt lächelte erneut und klopfte ihm auf die Schulter.
„Genau. Ihr habt Probleme. Jetzt bist du auf dem richtigen Weg.“
„Benedikt, Lara hat Klaustrophobie! Ganz besonders in dunklen, geschlossenen Räumen! Außerdem …“ Er wollte ihm die Liste noch mal von vorne aufzählen, doch der Mönch hob die Hand. Ein unmissverständliches Zeichen, deshalb hielt er inne.
„John, das sind einfach nur – Probleme. Verstehst du denn nicht?“
Mit seinem gütigen Lächeln versuchte Benedikt ihm wohl auf die Sprünge zu helfen.
„Ja, und?“
„Probleme sind Hürden, die man gemeinsam überwinden kann. Mit Kreativität, mit Kompromissen, mit Liebe und manchmal mit Opfern. So, wie du als Taktiker in der Lage bist, schwierige Situationen für die Wächter zu meistern, kannst du auch für euch beide immer einen Weg finden – wenn du nur willst.“
Die Sonne war untergegangen. Der dunkler werdende Himmel zeigte nun eine grandiose rötlich violette Färbung. Benedikt nahm die Hand von seinem Nacken.
„Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg“, zitierte John nachdenklich.
„Jetzt verstehst du es, John. Und mein Rat an dich, Johannes Ritter der weißen Lilie ist …“
„Ora et labora – wie immer?“, unterbrach er ihn lächelnd.
Der Mönch schmunzelte und hob den Zeigefinger. „Was ich sagen wollte, ist: Liebe, arbeite und bete.“
Fragend hob John eine Augenbraue und hakte erstaunt nach.
„Meinst du lieben im Sinne von amare oder ähm“, er räusperte sich verlegen, „concube?“
„Ich glaube, was jeweils vonnöten ist, findest du von allein heraus.“
Hatte der Mönch ihm gerade zugezwinkert?
„Und darüber hinaus solltest du Lara im Augenblick wie einen Schmetterling behandeln.“
„Wie einen Schmetterling?“
John runzelte die Stirn. Sie benahm sich eher wie eine Katze, die ihre Krallen zeigte.
„Wenn du einen Schmetterling in deinen hohlen Händen hältst, um ihn zu beschützen, sagen wir vor dem Regen, was wird geschehen?“
Er schloss die Augen und versuchte, sich das vorzustellen.
„Um freizukommen, würde der Schmetterling wahrscheinlich nicht aufhören zu flattern und sich dabei die Flügel zerstören, was ihn auf lange Sicht ebenfalls töten würde.“
John fragte sich jedoch im Stillen, wie er Lara in Zukunft schützen sollte, ohne das zu tun. Elisabeth hatte er bereits verloren, Lara beinahe. Er wollte Benedikt gerade danach fragen und öffnete die Augen, doch der Mönch war verschwunden.
Raúl hatte keine Zeit verloren und war mit dem Großteil seiner Männer angerückt. Boris, der Stellvertreter seines Bruders Ramón, hatte einen fragwürdigen Bericht abgegeben. Dabei hatte er keine Gelegenheit ausgelassen, Hassan, den Leibwächter seines Bruders, zum Sündenbock zu machen und ihm die Schuld an seinem Tod zuzuschieben.
Vielleicht log Boris, offensichtlich hasste er ihn auch, denn er hatte ihn eingesperrt und ihm kein Blut zukommen lassen, damit sein Körper nicht in der Lage war, sich zu regenerieren.
Zu seinem Leidwesen brauchte er diesen Boris jedoch, um die vorhandenen Kontakte zu nutzen, damit er die Drogengeschäfte seines Bruders weiterführen konnte.
Gleich würde er dieser Ratte Boris aber vor Augen führen, was ihm in Zukunft blühte, sollte er ihn je enttäuschen. Wenn er das Gebiet seines Bruders übernehmen wollte, müsste er sich Autorität verschaffen und ein für alle Mal klarstellen, wer das Sagen und die Macht hatte. Er würde diesen Hassan nutzen, um ein Exempel zu statuieren.
Außerdem war Ramón trotz allem sein Bruder gewesen und der Leibwächter bot ihm eine willkommene Gelegenheit, die Wut und den Schmerz über seinen Verlust herauszulassen – und er hatte nicht vor, sich zurückzuhalten.
„Das habt ihr zu erwarten, wenn ihr euch mir widersetzt“, warnte Raúl, als der klägliche Rest von den Leuten seines Bruders vor ihm versammelt war.
Auf einen Wink von ihm wurde Hassan von zwei seiner Vampire hereingebracht und festgehalten. Bevor der auch nur den Mund aufmachen konnte, schlug Raúl auf ihn ein.
Das Knacken der Knochen und das herausgedroschene Blut verschaffte ihm Befriedigung und erzielte bei den Zuschauern den gewünschten Effekt. Am Ende lag nicht mehr als ein Haufen blutüberströmtes Fleisch am Boden.
„Ich habe jetzt die Herrschaft über dieses Gebiet. Wer mir die Treue schwören will, kniet jetzt nieder. Wer stehen bleibt, ist der Nächste.“
Keiner stand mehr, als er seine blutigen Hände an einem Tuch abwischte. „Da wir das jetzt geklärt haben, werde ich Schritte in die Wege leiten, um am Mörder meines Bruders Rache zu nehmen und diese Wächter auszurotten. – Boris, du sperrst diesen Verräter hier zusammen mit seiner Mutter ein, damit er ihr Blut trinken kann. Ich bin noch nicht fertig mit ihm.“
Bald darauf hielt Raúl das Portemonnaie in Händen, das Boris ihm überreicht hatte, und klopfte es ungeduldig in seine offene Hand. Leer! Völlig leer! Kein Führerschein, kein Ausweis! Wütend taxierte er Boris mit seinem Blick.
„Ist das alles, was ihr von dem Wächter und seiner Gefährtin habt?“
Vermutlich verschwieg Boris Informationen, um sich bei ihm unentbehrlich zu machen. Zugegebenermaßen ein kluger Schachzug, doch er würde diese verlogene Ratte umbringen, sobald er sie nicht mehr brauchte.
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