„Nein! Ich muss raus! Muss raus in die Sonne!“
Mittlerweile keuchte Lara bereits, deshalb öffnete er als letzte Möglichkeit zur Hilfe die symbiotische Verbindung zu ihr. Als ihn ihre blinde Panik wie eine Flutwelle überrollte, erkannte er, dass es für Vernunft zu spät war. Er hätte sie nur noch in einem Akt der Gewalt festhalten und ihr seine eigenen, positiven Gefühle aufzwingen können. Aber dann wäre er auch nicht viel besser als Lucius. Der hatte vor nichts zurückgeschreckt, um Sarahs Liebe zu erzwingen, und sie damit bis heute traumatisiert. Also ging er zum Bedienelement, um die Stahlrollläden zu entriegeln.
Die plötzliche Angst, dass sie fliehen und erneut in die Hände von Ramóns Leuten geraten würde, traf ihn wie ein Vorschlaghammer und ließ ihn eine harte Warnung aussprechen: „Geh raus, wenn du willst, aber versuch nicht, über die Mauer zu flüchten. Ich habe den Zaun obendrauf unter Starkstrom gesetzt.“
Das war ihm gerade erst wieder eingefallen. Weil sie mit einem Angriff von Ramón rechnen mussten, hatte er die Sicherheitsmaßnahmen gegen Eindringlinge hochgefahren und der Starkstrom gehörte dazu. Einmal ausgesprochen wurde ihm aber schlagartig klar, dass es für Lara klingen musste, als hätte er sie in ein Hochsicherheitsgefängnis gesperrt. Er seufzte.
„Es tut mir leid, Lara. Du bist zwischen die Fronten geraten. Ich wünschte, ich könnte das ändern – aber ich kann es nicht.“
Er löste die Sperre und drückte den Knopf, der die Jalousien öffnete. Blitzschnell verließ er den Raum und verharrte hinter der geschlossenen Tür.
Hatte Lara seine Warnung in ihrem Zustand überhaupt registriert? Und falls ja, würde sie trotzdem eine Flucht über die Mauer wagen? Über die Symbiose spürte er immer noch ihre blinde Panik. Eiskalte Furcht stieg in ihm auf.
Sekunden später stürmte er in Elias Büro.
„Schnell! Gib mir die Außenkameras in der Nähe meiner Terrasse.“
Elia benötigte nur einen Wimpernschlag.
„Scheiße!“
„Was ist denn los, John?“
Der Monitor zeigte, wie Lara geradewegs auf die Mauer zustürmte.
„Verdammt! Vielleicht schafft sie es, die Mauer hochzuklettern! Wie schnell kannst du den Starkstrom abstellen, Elia?“
Aber selbst wenn der Starkstrom sie nicht tötete, bestand die Gefahr, dass sie durch den Stromschlag von der Mauer stürzte. Wenn sie sich dabei das Genick brach, würde ihr kein Vampirblut der Welt mehr helfen.
„Wie schnell, Elia?“
„Du weißt doch, das geht nicht von hier aus. Da muss jemand nach draußen zum Verteilerkasten.“
John wollte gerade zum Verteilerkasten spurten, als ihn Elia am Arm zurückriss.
„Spinnst du, John? Draußen scheint die Sonne!“
„Scheiße!“
„Hey, beruhig dich. Lara ist doch nicht dumm.“
„Aber in völliger Panik!“
John wählte sofort die interne Nummer von Walter. Aber Walter war nur ein Mensch und bei Laras Tempo wäre sie schneller an der Mauer als er am Verteilerkasten …
Während er Rose’ Onkel die Anweisung gab, fixierte er Lara auf dem Monitor wie ein Scharfschütze sein Ziel.
„Beruhig dich wieder“, meinte Elia. „Sieh mal, Lara läuft nur an der Mauer entlang.“
„Ja, und sucht nach einer Möglichkeit rüberzukommen.“
Sein ganzer Körper war angespannt wie der einer Raubkatze kurz vor dem Sprung.
Immer wenn Lara aus dem Bild lief, musste Elia zur nächsten Kamera schalten. Erst als Walter meldete, dass der Starkstrom abgeschaltet war, ließ John sich mit einem tiefen Atemzug auf den Bürostuhl neben Elia fallen.
Aus dem Augenwinkel behielt er Lara im Auge, wandte sich aber dem Computergenie zu.
„Ich brauche einen Laptop für Lara. Sie muss dringend arbeiten und macht das auch gern draußen in der Sonne …“
Mit einem Blick auf den Monitor meinte Elia ironisch: „Sieht eher so aus, als bräuchte sie dringend anständige Laufschuhe.“ Johns ärgerliches Knurren konnte Elias Grinsen nicht ganz vertreiben. „Schon gut, schon gut. Von den Neuen in meinem Lager hab ich einen mit entspiegeltem Display, dessen Helligkeit sich automatisch an die Lichtverhältnisse anpasst.“ Elia stand auf und ging in einen Nebenraum. „Unsere Standard-Software ist schon installiert und ihr Schreibprogramm mit den Daten ihres heimischen Rechners spiele ich auf.“
Elia kam mit einem der teuersten Marken-Laptops zurück, die es auf dem Markt gab, und während seine Finger über die Tasten flogen, erklärte er John: „Quint hat beim letzten Mal eine versteckte Verbindung von ihrem zu meinem Rechner hergestellt.“
„Sicher ist sicher – typisch Quint.“
„Nein, das war ausnahmsweise meine Idee. Aber kannst du mir mal erklären, warum Lara so in Panik geraten ist?“
„Wir haben uns gestritten“, sagte er zögernd und hoffte, sein Freund würde es dabei belassen.
„Und?“
„Ich habe ihr gesagt, sie muss hierbleiben.“
„Und?“
Frustriert fuhr sich John durch seine Locken. „In dunklen, geschlossenen Räumen bekommt sie Klaustrophobie.“
„Ach du Scheiße! Kein Wunder, dass sie durchgedreht ist.“
„Kannst du laut sagen. Ich wollte heute mal in Alvas Bücher schauen, ob ich was dazu finde.“
„Spar dir den Weg, John. Du hast alle Bibliotheken der Welt vor deiner Nase.“ Elia wies mit dem Kinn auf den Bildschirm vor ihm.
John runzelte die Stirn. Elia schüttelte nur den Kopf und machte sich an der Tastatur vor John zu schaffen.
„Schon vergessen? Wir haben das World Wide Web! Hier, dieses medizinische Nachschlagewerk benutzt Alva immer. Oder such dir eins von den 400 000 anderen aus.“
Vertieft in die Internetlektüre wurde John bald wieder nervös, denn Lara hatte sich auf eine Bank gesetzt und schien die Mauer um das Anwesen zu mustern.
„Brauchst du noch lange, Elia?“ Mit dem Laptop hätte er einen Grund, sie wieder hereinzulocken.
„Bin fast fertig“, erklärte der, „nur der Akku ist nicht voll geladen.“ Im gleichen Moment öffnete sich die Tür.
„Benedikt! Schön, dich zu sehen.“
John begrüßte mit Elia den Mönch in seiner langen braunen Kutte und seinen schweigsamen Begleiter. Der hielt sich unter der großen Kapuze im wahrsten Sinne des Wortes bedeckt.
Er merkte, dass Elias Augen sich in freudiger Erwartung aufhellten. „Du hast bestimmt Sarah mitgebracht!“
Sarah hatte auf der schwarzen Liste von Ramón gestanden. Elia wäre beinahe Amok gelaufen, als er davon erfahren hatte, brachte es aber nicht übers Herz, der ängstlichen Sarah von der Gefahr zu erzählen. Deshalb hatte John den Vorschlag gemacht, sie unter einem Vorwand in Benedikts Kloster auf der Insel in der Irischen See zu schicken.
„Nein, Elia. Ich denke, das ist noch zu früh.“
„Was verschafft uns dann die Ehre?“, fragte John.
„Ich war bereits auf meiner Reise, um im Kloster nebenan etwas zu erledigen, als ich von der Entwicklung der Dinge hier bei euch hörte.“
„Welche Entwicklung?“, hakte er skeptisch nach.
„Ihr habt Ramón getötet.“
John nickte und musterte Benedikts Gesichtsausdruck.
„Du siehst aus, als ob dir das Sorgen bereitet.“
Der Mönch unter der Kapuze murmelte etwas Unverständliches.
Benedikt antwortete: „Ihr müsst damit rechnen, dass sein Bruder Raúl jetzt hier auftaucht.“
Kein Wunder, denn ein frei gewordenes Territorium wollte sich jeder Blutfürst gern unter den Nagel reißen. Als Taktiker wollte John mehr Informationen, aber das Raubtier in ihm wollte seine Gefährtin verteidigen und dachte nur an den Kampf. „Und? Wie viele wird er mitbringen?“, fragte er herausfordernd. Ein tiefes Knurren folgte.
Benedikt hob eine Augenbraue. „Sicher mehr als ihr.“
„Das ist ja auch nicht schwer“, murmelte Elia frustriert. „In den letzten hundert Jahren gab es kaum noch geeignete Anwärter, die uns Wächtern beitreten wollten.“
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