Für diesen Scherz boxte sie ihn noch mal, konnte ihr Schmunzeln aber nicht verbergen. Sie war nicht dumm, wusste, dass John versuchte, sie abzulenken – mit Erfolg.
Und er setzte noch einen oben drauf: „Raven würde sagen, du musst an deiner Schlagtechnik arbeiten.“
„Mach weiter so und du wirst zu meinem Boxsack!“
Er lächelte, musterte aber nebenher ihr Outfit.
Währenddessen staunte sie selbst, mit welcher Routine sie ihr neues Messer in den Stiefel steckte.
„Gut, dass du diese praktischen Schuhe trägst.“
„Ja, für die Suche nach dir: flache Absätze und rutschfeste Sohle. Ich wollte ja weglaufen können, falls sie mich entdecken.“
Sie sah hoch und merkte, dass Johns Lächeln erstarb.
„Benedikt hatte recht“, murmelte er, „du bist das Risiko bewusst eingegangen.“ Er fasste sie an beiden Schultern, seine bernsteinfarbenen Augen blickten sie mit unverhohlener Sorge an. „Bitte mach so was nie wieder.“
Durch diese übernatürliche Verbindung zu ihm würde sie ihn nicht belügen können. Als wüsste er die Antwort, schloss er kurz die Augen, holte tief Luft und fuhr sich mit der Hand durch die goldbraunen Locken.
Wortlos überprüfte er ihre Glock ein letztes Mal und lud sie durch. Zum Abschluss legte er ein Handy in ihre Hand.
„Alle Nummern der Wächter und die des Hauptquartiers sind hier eingespeichert.“
„Ist das denn wirklich alles nötig?“
„In dem Restaurant, wo sie mich gefangen nahmen, war ein kleiner Junge im Schlafanzug mit rotem Spielzeugauto“, sagte John traurig, brach den Satz ab und schaute zur Seite. „Sie haben nicht mal vor Giftgas zurückgeschreckt.“
Sie schluckte. „Dagegen hilft das hier aber auch nicht.“
„Aber die hier.“
Erschrocken drehten sich beide zur Tür. Unbemerkt war ein Vampir in die Wohnung gekommen, der Lara mehr als einmal eine Heidenangst eingejagt hatte. Seine langen feuerroten Locken waren ebenso wild und grimmig wie er selbst.
Er hatte sie gehasst, weil John sein Leben riskiert hatte, um sie zu retten, nachdem sie wegen ihres Gehirntumors von einer Eisenbahnbrücke in den vermeintlichen Tod gesprungen war.
Seine Statur und Kleidung – hochgekrempeltes, kariertes Flanellhemd, darunter graues Rippenshirt und robuste Jeans – erinnerten sie an die Holzfäller in den kanadischen Wäldern eines anderen Jahrhunderts. Nun lehnte Quint lässig im Türrahmen und ließ drei Gasmasken an seiner Hand baumeln.
„Verschwinde!“
„Nein. Ich bin Lara noch was schuldig, darum komme ich mit und passe auf euch auf.“
„Ja, das bist du! Du hast Sarah den Schlüssel zu ihrer Erinnerung verraten, das hätte Lara beinahe das Leben gekostet!“
Durch Sarahs Hilfe war ihre Erinnerung an John und die Vampire wiedergekehrt und nur dadurch hatte sie ihn in Ramóns Versteck finden können – und war geschnappt worden.
„Ich will dich hier nicht sehen! Sonst verliere ich noch die Beherrschung!“
Johns drohendes Knurren brachte den Boden zum Vibrieren.
„Es wäre besser, du verlierst endlich deine Beherrschung, dann haben wir’s hinter uns! Agnus hat mir deswegen schon eine verpasst. Also mach schon, tu dir keinen Zwang an.“
John ballte seine Hände zu Fäusten.
Lara blickte zwischen den Männern hin und her, die sich drohend voreinander aufbauten. Einem Bauchgefühl folgend, trat sie zwischen die beiden und legte ihre flache Hand auf Johns nackte Brust, dort, wo das Hemd offen stand.
„Das reicht jetzt!“
Sie sah John direkt in die Augen und zu ihrer Verblüffung ließ er sich von ihr sogar zwei Schritte zurückschieben.
Lag es an der Symbiose, dass dieser zornige Granitblock von Vampir nachgab, oder respektierte er nur ihren Willen, trotz des ungleichen Kräfteverhältnisses?
Jedenfalls stieß Quint einen amüsierten Pfiff aus, was die Lage auch nicht gerade entschärfte.
„Quint!“ Verärgert drehte sie sich nun zu ihm um.
„Lara“, unterbrach Quint sie in einem warnenden Tonfall.
Ihr Blick fiel auf seine ausgefahrenen Reißzähne. Ein eiskalter Schauer jagte über ihren Rücken, denn für einen schrecklichen Moment rechnete sie damit, dass er mit diesen mörderischen Dingern ihre Kehle zerfetzen würde.
Aber dann fuhr Quint nur seelenruhig fort: „Lass lieber John zuschlagen, sonst brichst du dir noch deine Finger an mir.“
Mit klopfendem Herzen setzte sie ihre aufkommende Wut gegen ihre Angst ein. Sie drehte sich zur Seite, um beide mit einem zornigen Blick zu strafen, und stemmte die Hände in die Hüften.
„Seid ihr beide eigentlich noch zu retten? Ihr zwei schimpft euch doch Wächter, oder? Habt ihr ganz vergessen, dass die bösen Jungs zum Verhauen da draußen sind?“
Die beiden Männer sahen sich verdutzt an, während sie tief durchatmete. „Wo war ich stehen geblieben?“
„Bei – Quint?“
„Ach ja. Quint, ich wollte mich bei dir bedanken. Wärst du nicht doppelt vorsichtig gewesen, hätte Ramón von mir die Adresse eures Hauptquartiers erfahren, als er dieses Hypnoseding mit mir veranstaltet hat. Aber so konnte ich ihm nichts verraten, obwohl ich mich erinnert habe.“
Quints Stirn legte sich in Falten.
„Es waren die Socken, oder? Du hattest was in deinen Socken versteckt, richtig?“
„Stimmt genau.“
Seine Stirnfalten glätteten sich wieder.
„Ich hab die ganze Zeit gegrübelt und erst wieder ruhig geschlafen, als ich wusste, wie du’s angestellt hast. Aber was ist mit dem Schlüssel? Das war ein Ölgemälde in Johns Quartier. Du hättest dich nur daran erinnern dürfen, wenn du wieder zu ihm zurückkehrst und das Bild dort siehst.“
„Ein Foto aus dem Internet tat’s auch.“
„Scheiße!“
John knurrte erneut. „Du hast Laras Sicherheit und die des Hauptquartiers gefährdet, ist dir das klar?“
Quints Hände wurden zu Fäusten, er beugte sich vor und knurrte. „Ich werde nie wieder einer Frau vertrauen, das kannst du mir glauben!“
Lara erschrak innerlich. Quint machte sich größte Vorwürfe, aber die Konsequenz, die er daraus zog, würde seine Zukunft ruinieren.
Anstatt endlich Ruhe zu geben, setzte John auch noch einen obendrauf: „Du hast den Zettel in der Socke und Sarahs Telefonnummer übersehen, die sie an den Kühlschrank gehängt hat, wie ich erfahren habe! Wo warst du bloß mit deinen Gedanken?“
Quint beugte sich vor und verengte die Augen zu Schlitzen. „Ich hatte gerade von Sarah erfahren, dass du bei einem Angriff der Gesetzlosen schwer verletzt wurdest.“
Lara fuhr sich genervt durch ihre Locken. „Mist! Passiert euch das etwa öfters? Wo bin ich hier nur gelandet!“
„Bei den Wächtern“, antworteten die Männer synchron.
„Na super! Habt ihr beiden Sturköpfe jetzt alles geklärt? Ich will endlich los!“
John ging, um seine Stiefel anzuziehen. Kaum war er außer Sichtweite, steckte Quint ihr einen Zettel zu, auf dem stand: „Schick ihn voraus“, und legte einen Finger auf seine Lippen. Bei Johns feinem Vampirgehör wäre flüstern wohl sinnlos gewesen.
„Wir müssen vorher noch was aus der Waffenkammer holen“, meinte John, worauf sie murmelte:
„Und das wird sicher kein Brieföffner sein.“
Er schaute sie verwirrt an. „Geh doch schon mal vor, John. Ich muss noch für kleine Mädchen.“
Er sah auffordernd zu Quint, deshalb ergänzte sie schnell: „Es ist besser, wenn Quint mich begleitet. Ich finde mich hier noch nicht allein zurecht.“
Bevor John widerwillig ging, knurrte er leise und schaute Quint misstrauisch an. Lara beschlich ein ungutes Gefühl.
Kaum war er um die nächste Ecke, schloss Quint die Wohnungstür von innen ab und schob sie hastig und grob zum kleinen Gäste-WC. „Los, beeil dich, rein da.“
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