„Zufall?“
„Schwer zu glauben, aber möglich ist es natürlich.“
„Es gibt eine Menge Autos mit Anhängern. Wir sind hier ziemlich ländlich, ständig muss man doch irgendetwas transportieren. Die Bauern, die Holzfäller, die Werkstätten.“
Dollerschell nickte, drehte sich auf dem Absatz um. Ihm wurde langsam heiß mit seinem Sakko und dem Kapuzenpullover. Und dem Baby im Arm. Die kleine Katharina begann zudem, wieder unruhig zu werden. Er würde ihr ein Fläschchen zubereiten und sie dann nach Hause bringen. Er blickte auf die Uhr: Kurz nach zwei, er hatte schon mindestens drei Stunden keine geraucht, der Filter seiner Zigarette, die nach wie vor in seinem Mundwinkel steckte, war bereits durchnässt.
„Und wie erklärst du dir den Geruch nach Möbeln in dem Anhänger? Middleman hatte ein Hotelzimmer – er wollte sich sicher nicht häuslich einrichten“, sagte Plossila.
„Das wird dieses Rednerpult gewesen sein. Nimm die Lampen dazu, die er geordert hat: Der Typ hatte irgendeine Veranstaltung im Sinn, sicher mit den rechten Brüdern.“
Dollerschell schüttelte den Kopf. „Mit der Veranstaltung gebe ich dir recht, aber das Rednerpult kam von der gleichen Firma wie die Lampen. Es wurde nur schon früher geliefert. Er musste dafür also nicht selbst ein Auto mieten.“
„Hmmm“, brummte Plossila. Dann gab es eine Pause, der Hauptkommissar schien nachzudenken. „Hat Doris die Kleine eigentlich pünktlich im Revier abgeholt?“
Dollerschell zögerte einen Augenblick, war überrascht von dem Themenwechsel. Er räusperte sich. „Ja klar, war nur eine Ausnahme, dass ich Kathi hatte, kommt nicht wieder vor. Für Kinder sind die Frauen zuständig – meine Meinung.“
Plossila gab einen erneuten Brummlaut von sich, ob er Zustimmung oder Ablehnung signalisieren sollte, war Dollerschell nicht ersichtlich. „Tu mir einen Gefallen, Dollar! Ich wollte dieser Wehrsportgruppe einen kleinen Besuch abstatten. Jenny habe ich zu Isenbarth geschickt – der Obduktionsbericht ist fertig und du weißt, wie es ist ...“
„... am Telefon kann man den immer so schlecht besprechen“, imitierte Dollerschell den Forensiker.
Plossila stieß einen dunklen Lacher aus, der sich allerdings mehr wie ein Huster anhörte. „Ich würde gerne zu zweit gehen, bei den Jungs mit den Glatzen weiß man nie. Die sehen schlimmer aus, als sie sind, ist klar, aber ...“
„Ist eh Vorschrift: So was macht man nicht allein.“
„Genau, Vorschrift!“ Das Wort hörte sich aus Plossilas Mund an, als habe er es in zwei dicke Anführungsstriche gestellt und halte es mit Pinzette und angewidertem Blick möglichst weit von sich weg.
Dollerschell ließ sich die Adresse geben. Die Wehrsportgruppe befand sich in Dießen am Ammersee. „Das muss direkt in der Nähe des Carl Orff Museums sein.“, sagte Plossila.
„Carl Orff Museum – ist da nicht auch die Polizeidienststelle?“
„Glaube, ja.“
„Komischer Ort für eine Gruppe verkappter Nazis, wenn du mich fragst. Bin in einer dreiviertel Stunde da, okay?“
„Bis gleich!“
Dollerschell bereitete seiner Tochter auf der Rückbank des Wagens ihre Milch zu. Danach verpackte er sie wieder in den Maxicosi und machte sich auf den Weg nach Dießen. Er würde sich irgendeine Ausrede einfallen lassen, warum er seine Tochter dabei hatte. Vielleicht konnte er sie auch kurz im Auto lassen und Plossila würde sie gar nicht bemerken.
Als er vom Hof fuhr, sah er durch die Fenster der Autovermietung, wie der Dunkelhaarige ganz nah an die Blonde geschmiegt war. Er schien sie zu küssen.
Plossila liebte diese Landschaft: Sanfte Hügel und Weiden, die sacht zum Wasser hin abfielen. Immer wieder tauchten alte Gehöfte und kleine Wälder auf und verstellten den Blick auf den See, der ruhig und mächtig in der Landschaft lag. Hinter Utting lenkte er den Wagen in eine lange Kurve, der See verschwand eine Zeit lang hinter einer Siedlung, dann ging es eine Anhöhe hinauf und der See blitzte ihm wieder sein strahlendes Blau entgegen. Der einzige Wermutstropfen waren die Wolken, die über den Bergen hingen und ein Gewitter ankündigten.
Kurz vor Dießen überholte er einen Campingbus. Er wählte dazu eine uneinsichtige Stelle, die Mittellinie war durchgezogen. Der alte Mercedes, der ihm auf der Gegenfahrbahn entgegen gekommen war, und dem er erst in letzter Sekunde ausweichen konnte, hupte noch wütend in der Ferne, als Plossila bereits nach Dießen einfuhr.
Rechts ging es in die Landsberger Straße, in der sich auch das Gebäude der Wehrsportgruppe befinden musste, links führte die Mühlstraße in Richtung See. Er hatte noch Zeit, eine halbe Stunde mindestens, also setzte er den Blinker nach links, parkte den Wagen direkt vis-a-vis des Gasthofs „Oberbräu“, den er noch aus seiner Kindheit kannte. Er stieg aus, setzte sich unter einen gelben Sonnenschirm und bestellte einen Espresso.
Das Café war nicht sonderlich gut besucht, nur eine Dame in Bikini und mit einem Tuch um die Hüften saß am Nachbartisch und blätterte durch eine Illustrierte, von drinnen drang das Klappern von Besteck nach draußen, irgendwo bellte ein Hund. Die Straße war menschenleer, der Teer wölbte sich leicht unter der Hitze, als sei er mit Hefe angerührt. Weiter unten querte die Bahntrasse, über die sich gerade ein ächzender Zug quälte. Hinter den Gleisen lag der See, und als das müde Schnaufen des Zuges sich entfernt hatte, hörte Plossila die Schreie von Kindern und das Bimmeln eines Glöckchens hallte zu ihm hinüber und verlor sich dann in den ausgestorbenen Straßen.
Er setzte die Sonnenbrille auf, denn Espresso trank man ausschließlich mit Sonnenbrille auf der Nase, wie er fand. Dann entschied er, den Wagen stehen zu lassen und zu Fuß gehen.
Schon nach etwa drei Minuten bereute er, nicht den Wagen genommen zu haben. Die Sonne brannte auf ihn herab, trieb ihm die Schweißperlen auf die Stirn, machte seine Schritte schwer. Er blickte zurück: Das kleine Städtchen schien wie verlassen, kam einer Kulisse gleich. Entweder man war am See oder blieb zu Hause vor den Ventilator.
Er wischte sich mit einem Stofftaschentuch über den Nacken, war außer Puste, fühlte sich schlapp. Wieder einmal nahm er sich vor, so bald wie möglich an seiner Fitness zu arbeiten. Morgen. Später. Irgendwann.
Endlich, er war da! Seine Schuhe knirschten über einen von der Sonne verdorrten Rasen. In der Mitte stand ein Flaggenmast. Er nahm die Sonnenbrille ab und blickte hinauf. Die Deutschlandfahne hing schlapp herunter, trotz Windstille klimperte irgendetwas in unregelmäßigen Abständen gegen das Aluminium der Stange.
Plossila wischte sich mit dem Unterarm über das Gesicht und betrachtete das Gebäude. Es erstreckte sich über drei Etagen, in die jeweils zwei große Fenster eingelassen waren. Alle Fenster waren mit Rollläden verschlossen. Ein zweistöckiger Erker hatte sich vor die linke Fensterfront gelegt, er gab dem Gebäude etwas von einer Festung, die kleinen Fenster an der Seite des Erkers wirkten wie Schießscharten.
Plossila zog sein Handy heraus, sah auf die Uhr. Viertel vor drei, Dollerschell würde also erst in fünfzehn Minuten eintreffen. Müde schritt er auf das Haus zu.
Die Eingangstür befand sich auf der westlichen Seite, auf der Klingel stand kein Name, was Plossila nicht verwunderte. Er schritt weiter um das Gebäude herum, das zur linken von gewaltigen Tannen flankiert wurde. Auf der Rückseite des Hauses ein weiteres Rasenstück, ebenfalls von hohen Tannen umstellt. Umstellt wie von großen, stummen Soldaten. Im Eck ein schwerer Steingrill, der Rasen davor war zertrampelt, eine trockene Lehmschicht zeigte sich. An der Hauswand lehnten ein paar hölzerne Klappstühle. Daneben ein schwarzes Geländer, das zu einer Kellertüre hinabführte.
Plossila legte eine Hand an das Geländer, es war überraschend kühl. Eine eigenartige Stimmung erfasste ihn. Verlassenheit.
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