Mark Fisher
Das Seltsame und das Gespenstische
Aus dem Englischen von Robert Zwarg
Mit einem Nachwort von Christian Werthschulte
FUEGO
- Über dieses Buch -
Warum ist da etwas, wo doch nichts sein sollte? Warum ist da nichts, wo doch etwas sein sollte?
In den letzten, vor seinem Selbstmord geschriebenen Essays begibt sich Mark Fisher auf die Spur zweier eigentümlicher Affekte, dem Seltsamen und dem Gespenstischen. Eng verbunden und doch getrennt, stellen beide das Verhältnis von Innen- und Außenwelt infrage, heften sich an das Eigenartige und Unbekannte, bedrücken, ohne Angst zu erregen, faszinieren und verstören zugleich. Mark Fisher findet das Seltsame und Gespenstische in der unheimlichen Unterströmung des 20. Jahrhunderts: den Filmen David Lynchs, Stanley Kubricks und Andrei Tarkovskys, der phantastischen Literatur H.P. Lovecrafts und H.G. Wells oder den Erzählungen Margaret Atwoods. In den Genres wie Horror und Science Fiction geht Fisher der Frage nach: Was genau ist das Seltsame und das Gespenstische?
»Das Buch ist eine Forschungsreise in den Pulp Modernism, jene Formen der Popkultur, in denen sich für Fisher der Erkenntnisreichtum des Hochmodernismus des frühen 20. Jahrhunderts fortsetzt.« Christian Werthschulte
Pressestimmen
»Er war mehr als ein Popkritiker: Grenzgänger zwischen Kultur und Wissenschaft, Experte zerbrochener Zeitlichkeit, immer auf der Flucht vor dem Gefängnis der Denkregeln.« (Georg Seeßlen, Spex)
»Kaum jemand hat den Verlust der Zukunft so brillant beschrieben wie der britische Kulturtheoretiker Mark Fisher.« (Harald Staun, FAZ)
»Es ist das große Verdiest von Mark Fisher als Autor und Blogger über Jahre darauf insistiert zu haben, dass die große Traurigkeit seiner Generation und die damit verbundenen musikalischen und literarischen Melancholien politische Ursachen haben, ja mehr als das: so etwas wie eine verwandelte Politik sind. Dass seine eigene Depression so unerträglich wurde, dass er sich das Leben nahm, macht es schwer, über seine Ideen zu schreiben, ohne an die existenzielle Dringlichkeit zu denken, ihre Funktion als mobilisierte Notwehr gegen die tödliche Zersetzung durch das ›ursprüngliche Gefühl‹, das die Klassengesellschaft bei ihren Opfern hinterlasse… Diese Spannweite (von Literatur, Musik, Film) an Fisher ist wahnsinnig anziehend, dass er vom Entferntesten aus zum Politischen zu kommen versucht, ohne banalisierende, vordergründige Ableitungen.« (Diedrich Diederichsen, taz)
Für Zöe,
mein steter Quell der Unterstützung,
und der Grund, warum da etwas ist
und nicht nichts
Einleitung
Das Seltsame und das Gespenstische
(Jenseits des Unheimlichen)
Merkwürdig, dass ich so lange gebraucht habe, um mich dem Seltsamen und dem Gespenstischen zu widmen. Denn obwohl die unmittelbaren Anfänge dieses Buches eher jüngeren Datums sind, verfolgen und faszinieren mich Beispiele des Seltsamen und Gespenstischen seit jeher. Aber ich hatte die beiden Modi noch nicht wirklich identifiziert oder gar ihre Grundmerkmale erkannt. Ohne Zweifel liegt das daran, dass die wichtigsten kulturellen Beispiele für das Seltsame und Gespenstische an den Rändern von Genres wie Horror oder Science Fiction zu finden sind und dass die Verbindung mit diesen Genres verdecken, was das Besondere des Seltsamen und Gespenstischen ist.
Auf das Seltsame wurde ich vor ungefähr zehn Jahren aufmerksam, in Folge zweier Symposien über das Werk von H.P. Lovecraft am Goldsmiths College der University of London; das Unheimliche wiederum wurde das Hauptthema von Vanishing Land , einem Audio-Essay aus dem Jahr 2013, den ich gemeinsam mit Justin Barton produziert habe. Das Gespenstische hat sich an Justin und mich geradezu herangeschlichen; eigentlich war es nicht unser Thema, doch am Ende des Projekts fanden wir, dass vieles an der Musik, den Filmen und der Literatur, die uns heimgesucht hatte, die Qualität des Gespenstischen hatten.
Gemeinsam ist dem Seltsamen und Gespenstischen ein Bezug auf das Eigenartige. Das Eigenartige – nicht das Schreckliche. Der Reiz des Seltsamen und Gespenstischen gründet nicht darin, dass wir »genießen, was wir fürchten«. Vielmehr geht es um eine Faszination für das Außen, für das, was jenseits der üblichen Wahrnehmung, Erkenntnis oder Erfahrung liegt. Dieser Faszination ist oft eine gewisse Beunruhigung, vielleicht sogar eine gewisse Furcht beigemischt – doch es wäre falsch, anzunehmen, dass das Seltsame und das Gespenstische notwendigerweise furchterregend sind. Ich möchte freilich nicht behaupten, dass uns das Außen immer wohlgesonnen ist. Es gibt mehr als genug Schrecken da draußen; doch diese Schrecken sind nicht das einzige, was es da draußen gibt.
Dass es so lange gedauert hat, bis ich mich dem Seltsamen und dem Gespenstischen widmen konnte, hat vielleicht auch mit dem Bann, der von Sigmund Freuds Begriff des Unheimlichen 1ausging, zu tun. Bekanntermaßen wurde unheimlich im Englischen mit uncanny übersetzt; das Wort aber, das Freuds Verständnis des Begriffs besser beschreibt, ist unhomely . Das Unheimliche wird oft mit dem Seltsamen und dem Gespenstischen gleichgesetzt – Freud selbst behandelt die Begriffe als austauschbar. Doch der Einfluss seines großartigen Essays hat dazu geführt, dass das Unheimliche die beiden anderen Phänomene in den Hintergrund gedrängt hat.
Der Essay über das Unheimliche war für die Untersuchung von Horror und Science Fiction höchst einflussreich – am Ende vielleicht weniger aufgrund der eigentlichen Definition als aufgrund seiner Unentschlossenheit, seiner Mutmaßungen und der Thesen, die er ablehnt. Die Beispiele Freuds – Doppelgänger, mechanische Apparate, die wie Menschen erscheinen, Prothesen – erzeugen eine gewisse Unruhe. Doch Freuds Lösung des Rätsels des Unheimlichen – seine Behauptung, es ließe sich auf Kastrationsangst reduzieren – ist so enttäuschend wie jede mittelmäßige Standardauflösung eines Mysteriums durch einen Genredetektiv. Was allerdings immer noch fasziniert, ist das Bündel der in Freuds Essay kursierenden Begriffe und die Art und Weise, wie sie oft rekursiv genau jenen Prozess hervorbringen, auf den sie sich beziehen. Wiederholung und Verdopplung – selbst ein unheimliches Paar, das sich selbst verdoppelt und wiederholt – scheinen der Kern jedes »unheimlichen« Phänomens zu sein, das Freud behandelt .
Es gibt sicherlich etwas, dass das Seltsame, das Gespenstische und das Unheimliche verbindet. Es sind alles Affekte, aber es sind zugleich Formen: Formen des Films und der Literatur, Formen der Wahrnehmung und schließlich, so könnte man sogar sagen, Formen des Seins. Und dennoch handelt es sich strenggenommen nicht um Genres.
Der vielleicht wichtigste Unterschied zwischen dem Unheimlichen auf der einen und dem Seltsamen und Gespenstischen auf der anderen Seite ist ihr Umgang mit dem Eigenartigen. Bei Freuds Begriff des Unheimlichen geht es um das, was uns innerhalb des Vertrauten eigenartig erscheint, dem seltsam Vertrauten oder dem vertrauten Seltsamen – es geht darum, wie die vertraute Welt nicht mit sich identisch ist. Alle Ambivalenzen von Freuds Psychoanalyse verdichten sich in diesem Begriff. Sollen das Vertraute ( familiar ) – und das Familiäre ( fami lial) – wieder unvertraut werden? Oder geht es darum, dass Unvertraute wieder zurück ins Vertraute und Familiäre zu bringen? Hier sieht man die charakteristische Doppelbewegung der Freud’schen Psychoanalyse: zunächst gibt es die Verfremdung vieler bekannter Vorstellungen über die Familie; doch dies wird von einer kompensatorischen Bewegung begleitet, worin das Außen als modernes Familiendrama lesbar wird. Die Psychoanalyse ist selbst ein unheimliches Genre; sie wird verfolgt von einem Außen, das sie umkreist, aber niemals vollständig anerkennen oder bejahen kann. Viele Kommentatoren haben erkannt, dass Freuds Aufsatz über das Unheimliche selbst einem Märchen gleicht, wobei Freud in der Rolle des James’schen unzuverlässigen Erzählers ist. Aber wenn Freud ein unzuverlässiger Erzähler ist, warum sollten wir akzeptieren, dass sein eigenes Märchen unter die Kategorie fällt, die sein Essay vorschlägt? Was wäre, wenn die ganze Dramatik des Essays in Freuds ständigen Versuchen besteht, das Phänomen, das er untersucht, in die Kategorie des Unheimlichen zu pressen?
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