Jenny hatte ihre Hände auf den Intarsientisch gelegt und beugte sich über die Kasse hinweg, um mit auf die Liste schauen zu können. Mit ernster Miene fixierte sie abwechselnd den Mann, dann die Liste. Auf ihrer Stirn hatte sich eine bedrohliche Falte gebildet. „Was ist er?“
„Es ist ein spezieller Dolch. Er gehörte Oswald Pohl.“
Er sagte lange nichts, blickte aber die beiden Polizisten stumm an, wollte offenbar seine Worte wirken lassen.
Jenny brachte ihren Oberkörper wieder in die Vertikale, ließ ihre Finger aber nach wie vor auf dem Tisch liegen. „Wer ... Wer ist Oswald Pohl?“
„Sie kennen Pohl nicht?“ Rheser schob die Schublade unter einem Rumms zu und blickte zuerst zu Jenny, dann fragend zu Plossila.
Plosslia schüttelte den Kopf.
Rheser stand auf, trat hinter den Stuhl, den er wie zum Schutz zwischen sich, den Tisch und die Beamten schob. Er strich sich über sein nach rechts wehendes Haar, doch es war störrisch und blieb dort, wo es war. „Angeblich soll man sich ja an nichts erinnern können, was vor dem vierten Geburtstag liegt“, sagte er in einem anderen fast melancholischen Ton, „und deshalb bilde ich es mir vielleicht nur ein. Vielleicht liegt es an dem Foto, das ich davon habe: Ich auf den Schultern meines Vaters, der vor dem Alten Rathaus mit der Rokokofassade in Landsberg am Lech steht, zusammen mit viertausend anderen Landsbergern, also fast einem Drittel der damaligen Bevölkerung.“ Er machte eine kurze Pause, seine faltigen Hände kneteten die Stuhllehne. „Vielleicht erinnere ich mich daran, weil es die einzige Demonstration war, an der ich jemals teilgenommen habe, ich weiß es nicht. Aber ich glaube, dass mein Vater mich mit der linken Hand festgehalten hat, am linken Bein, das bis zur Brust seines grauen Mantels baumelte. Auf dem Foto ist klar zu erkennen, dass mein Vater als einziger keinen Hut trug, ich aber eine Mütze. Es war kalt damals im Januar 1951, der Wind zog eisig in mein Hosenbein, in den Straßenecken und auf den Dachschindeln lungerte noch der Schnee. Die andere Hand hielt mein Vater, und das sieht man jetzt nicht auf dem Foto, aber daran erinnere mich einfach, auch wenn ich erst drei Jahre alt war damals ... Die andere Hand hielt er in Richtung des Podiums und schrie Juden raus!“.
Er verstummte, blickte kurz zu Boden, wie aus Scham. Plossila hatte das Gefühl, er sollte etwas sagen, wusste aber nicht, was. Wie immer, wenn es entfernt um das Thema des menschlichen Zerfalls ging, wurde ihm ganz schwummrig. Er versuchte, sich Rheser als dreijährigen Jungen vorzustellen, und fragte sich, ob es aus seiner Sicht die sechzig Jahre wert gewesen waren, die zwischen dem Jungen und dem älteren Mann lagen, der jetzt hier mit wässerigen blauen Augen vor ihm stand. Er wusste, dass er gedanklich abdriftete, doch hatte er ohnehin nicht das Gefühl, dass ihn die Erinnerungen Rhesers in diesem Fall weiterbringen konnten. Er blickte zu Jenny, die seitlich vor ihm in Front des Tisches stand. Sie sah die Sache offenbar vollkommen anders, denn sie blickte ihn gebannt an, fast wie hypnotisiert hing sie an seinen Lippen.
Rheser fuhr fort: „Ich wusste nicht, warum er das schrie, ich hatte auch keine Ahnung davon, was es zu bedeuten hatte damals. Später habe ich nachgelesen, dass es während der Kundgebung zu einer Art Gegendemonstration gekommen war, von sogenannten Displaced Persons, die es nach Kriegsende überall in der Gegend gegeben hatte. Ehemalige Zwangsarbeiter, die hier in den Bunkeranlagen für den Bau der ersten Überschallflugzeuge geschuftet hatten, natürlich waren viele Juden darunter. Die eigentliche Demonstration aber hatte das Ziel einer Amnestierung von sieben Kriegsverbrechern, die hier im Todestrakt der Festung Landsberg auf ihre Hinrichtung warteten. Einer von ihnen war Oswald Pohl.“
Rheser legte eine erneute Pause ein, musterte seine Zuhörer. Dann fiel sein Blick auf seine Hände und er begann damit, sich die Sägespäne von den Fingern zu streichen. „Oswald Pohl hatte eine Bilderbuchkarriere im NS-Staat hingelegt. Als ehemaliger SA-Mann hatte ihn Himmler höchstpersönlich zur SS geholt. Er hatte es bis zum SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS gebracht und war später Leiter des SS-Wirtschafts- und Verwaltungshauptamtes gewesen. Damit war er einer der maßgeblichen Schreibtischtäter, welche die Vernichtung der Juden organisiert hatten. Er war es, dem die Konzentrationslager unterstellt waren, und nach allem, was man weiß, hat er dafür gesorgt, dass die dort Internierten verstärkt und ohne Gnade für die Rüstungsproduktion arbeiten mussten. Trotz dieser unbestreitbaren Tatsachen hat man sich Anfang der Fünfzigerjahre in großen Bevölkerungsteilen für Pohl eingesetzt. Über 600.000 Unterschriften für eine Gnadenpetition wurden in Deutschland gesammelt und ins Weiße Haus geschickt, die Deutschen sprachen plötzlich von Siegerjustiz und fanden sich als Opfer wieder. Dennoch kam weder von dort noch vom damaligen Landsberger Hochkommissar McCloy ein entsprechender Gnadenakt. Pohl wurde im Juni 1951 in Landsberg gehängt und anschließend auf dem Friedhof der Namenslosen beerdigt, da seine Heimatgemeinde die Überstellung des Leichnams ablehnte. Auch fünfzig Jahre später war die Geschichte nicht zu Ende, denn die bayerische Justiz stattete das Grabkreuz des Generals der Waffen-SS zu seinem Angedenken mit einem neuen Kupferdach aus, das Grab selbst wurde feierlich mit Blumen geschmückt ... Tja.“ Er zuckte mit den Schultern. „Warum ich Ihnen das alles erzähle? Weil jemand, der sich für den Ehrendolch dieses Mannes interessiert, nicht irgendwer sein kann. Die 9.000 Euro, die ich für die Waffe veranschlagt hatte, zahlt nur jemand, der sich in der geistigen Nachfolge dieses Verbrechers sieht.“
„Was ist denn der übliche Preis für eine Waffe wie diese?“, warf Jenny ein, die den alten Mann nach wie vor gebannt ansah.
„Ich würde sagen, maximal 2.000 Euro. Der Restwert geht allein auf den Geist des Trägers zurück. Es ist wie mit einer Jacke von Elvis, die vielleicht einen Materialwert von 200 Euro hat. Dadurch, dass Elvis sie getragen hat, ist sie auf einmal 20.000 Euro wert.“
„Was?“, warf Jenny ein und blickte wie versteinert auf Rheser. „Nur weil der Dolch diesem Typen gehört hat, den heute keiner mehr kennt, kostet der gleich fünfmal soviel? Was würde der denn kosten, wenn er Hitler gehört hätte?“
Ein eigenartiges Lächeln schwappte über Rhesers Gesicht, das Plossila nicht zuordnen konnte. War es abschätzig? Triumphierend? Oder einfach nur irgendwie wissend?
„Wenn ein Dolch wie dieser Hitler gehört hätte?“, wiederholte Rheser Jennys Frage, „dann würde ihn erst einmal die bayerische Landesregierung einfordern und wahrscheinlich in irgendeiner Asservatenkammer verstecken, die für die Bevölkerung nicht zugänglich ist. Aber angenommen, das Land Bayern hätte kein Interesse daran. Dann würde ich den Dolch sicherlich entweder an einen Sammler in die USA oder nach China verkaufen. Und weniger als 80.000 bis 90.000 Euro würde ich als Preis nicht akzeptieren.“
„Aber wieso sollte irgendjemand so viel Geld für ein bisschen Ebenholz und Nickel ausgeben, das ist doch absolut unlogisch.“
„Mit Logik hat es wenig zu tun, da gebe ich Ihnen recht. Dennoch ist das Geschäft mit denjenigen Dingen, die einer hochrangigen oder berühmten Person gehörten, eines der Ältesten überhaupt. Schon im Mittelalter wurden Vermögen für die Reliquien von Heiligen gezahlt. Ganze Dome hat man errichtet, um diese Schätze angemessen zu präsentieren. Eine persönliche Waffe Hitlers kann eine Menge wert sein. Hitler hat viele Fans und er wird mehr und mehr zu einer historischen Figur, der etwas Magisches anhaftet.“
„Das ist doch nicht zu ...“
Plossila wurde unruhig und fiel Jenny ins Wort: „Lassen Sie uns auf den Dolch zurückkommen. An wen haben Sie ihn denn nun verkauft?“
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