Die Rauhaar schluckte genüsslich einen Keksrest. „Ja, das Herumreiten auf Schwachstellen anderer macht ihr Spaß: Wenn Marina mich anspricht, sagt sie immer irgendwann: Wenn man so alt ist … Wahrscheinlich meint sie, das juckt mich, weil ich mich trotz meines Alters schick kleide und dazu noch schminke. Da denkt sie wohl, ich will dem Alter entfliehen, es sei mein schwacher Punkt. Und manchmal guckt sie mich so scharf an, dass ich Angst kriege, Blitze schießen aus ihren Augen.“ Die Rauhaar lachte auf. „Was ich euch noch nicht erzählt habe: Marina wollte auch die Mooskop anzeigen. Ihr das Sozialamt auf den Hals hetzen. Die Mooskop verwahrlose in ihrer Wohnung, sei ein Messie, man könne sie nicht mehr alleine leben lassen, sie müsse in die Betreuung.“
Priscilla lebte auf, ihre Wangen wurden ganz rot. „Die Mooskop tut niemandem was! Das Einzige, was sie möchte, ist, in Ruhe gelassen werden und die Tauben füttern. Sie ist alt und sie hat niemanden; keine Freunde, keine Verwandten. Ich habe noch nie jemanden zu ihr kommen sehen. Ihre Wohnung ist ihr Ein und Alles, ihr sicherer Rückzugsort. Sie möchte unter allen Umständen in ihren gewohnten, sicheren vier Wänden bleiben. Und gerade das hat Marina gewittert und will, dass eintritt, wovor die Mooskop am meisten Angst hat: dass sie aus ihrer Wohnung gewiesen wird, in ein Heim.“
Die Rauhaar verschluckte sich und hustete eine Weile. Dann setzte sie mit heiserer Stimme an: „Eigentlich hackt Marina immer auf Schwächeren herum. Da kann sie draufhauen, und es kommt nichts zurück. So ist es einfach nur befriedigend für sie. Eine schöne Erfahrung.“
„Sie braucht es“, stimmte Priscilla ein.
Diesen Schluss hatte ich auch schon gezogen. Als wir noch befreundet gewesen waren, hatte Marina mir vom Hass auf ihre Mutter erzählt. Ihre Mutter hatte sie ständig kritisiert. Sie konnte ihr nie etwas recht machen. Marina konnte nichts, sie war nichts, sie würde es nie zu etwas bringen. Einmal war sie von ihrer Mutter so geschlagen worden, dass sie mit zwei blauen Augen ins Krankenhaus kam. Marina war damals die Schwache gewesen, sie hatte sich als Kind nicht wehren können. Niemand hatte die Mutter damals angezeigt. Der Vater hatte sich einfach rausgehalten: Die Erziehung ist deine Sache , hatte er immer zu seiner Frau gesagt ...
Wir hatten eine Menge über Marina zusammengetragen. Ich sagte meine Meinung: „Marina mag ein aggressives Biest und ausländerfeindlich sein, aber Enis verprügeln, würgen und über die Brüstung stürzen … das ist doch etwas anderes.“
Priscilla kommentierte trotzig: „Kräftig genug wäre sie dafür.“
„Und gibt’s Ihrer Meinung nach sonst noch Verdächtige, Frau Rauhaar?“, fragte ich fast schon spöttisch, da ich das Gefühl hatte, als hechelten wir bald alle Hausbewohner durch und jeder käme infrage.
Die Rauhaar nahm meinen spöttischen Unterton anscheinend nicht wahr und antwortete begeistert: „Hochinteressant war die Befragung der Wistlers.“
„Sie waren dabei, als die Polizei die Wistlers befragte?“ Priscilla zog die Brauen hoch.
Die Rauhaar lächelte und wurde leicht rot um die Backenknochen. Sie klang ein klein wenig stolz: „Ich stand oben im vierten Stock, und zwei Stock tiefer befragte die Polizei die Wistlers … Ich stand so weit vom Treppengeländer entfernt, dass sie mich nicht sehen und ich alles hören konnte.“ Ich wunderte mich, dass die Rauhaar vor uns ganz offen hinzufügte: „Das ist mein Beobachtungsposten. Wenn jemand kommt, verschwinde ich in den Raum mit den Sicherungen.“
In dem Raum lagern die Putzutensilien des Hausmeisters. Wir nennen den Raum auch die Besenkammer .
„Frau Wistler ist sonst ja eher kurz angebunden. Beide tun immer so überlegen ... Da hat mich das Verhalten der Wistler ziemlich gewundert: So hab ich die Wistler jedenfalls noch nie gehört. Sie heulte, fast würd ich sagen winselte, der Polizei etwas vor. Wie schlimm der Vorfall sei, dass sie so etwas noch nie erleben musste. Unser Haus sei ein unbescholtenes Haus, hier wohnten nur ordentliche Leute. Sie hat doch glatt die Polizei gefragt, ob sie überhaupt ohne Gefahr hier wohnen bleiben konnten.“ Die Rauhaar lachte kurz auf. „Ausgerechnet die Wistler …“
„Wieso ausgerechnet die Wistler?“
„Na, sie handelt mit Drogen! … Er verdient ja nichts.“
Ich war baff. „Woher wollen Sie das wissen?“
„Ich beobachte es schon seit Jahren. Immer wieder kommen andere Personen zu ihnen, bleiben grade mal fünf Minuten, und gehen dann wieder.“
„Aber das muss nicht bedeuten, dass …“
Die Rauhaar schnitt mir das Wort ab: „Erwischt hab ich die Wistler im Park. Zufällig hab ich gesehen, wie sie einem der Nordafrikaner was abgekauft hat. Ich nehme an, sie kauft dort den Stoff und verkauft ihn zu Hause teurer weiter. Vielleicht verschneidet sie ihn noch …“
Priscilla leuchtete das sofort ein. „So was habe ich mir auch schon gedacht …“
„Und die Wistlers könnten also auch Enis umgebracht haben, meinen Sie, Frau Rauhaar?“
„Für direkt verdächtig halte ich sie noch nicht. Aber sie sind nicht ohne ... Sie hat Dreck am Stecken … Er macht einfach alles mit, der Arme, und muss sie bedienen, weil er kein Geld hat.“ Aus der Rauhaar sprudelte es nur so heraus. „Und wisst ihr, was ich noch beobachtet habe?“
„Aus der Besenkammer?“, musste ich bemerken.
„Genau. Ich stand am Türspalt und da hab ich doch glatt Matt Reynolds gestern Abend im Vierten aus dem Aufzug kommen sehen ...“
„Aber Reynolds wohnt doch im Dritten?“
„… Da sah ich ihn also im Vierten aus dem Aufzug steigen, und wisst ihr was? Er stellte sich vor Enis‘ Tür und flennte. Seine flache Hand lag auf der Tür, als wollte er sich dort festhalten. Und dann hat er die Tür gestreichelt!“
Ich setzte mich kerzengerade auf. „Mann. Das erzählen Sie erst jetzt? Das ist ja wirklich verdächtig.“
Die Rauhaar winkte energisch ab. „Quatsch. So ein schöner Junge. Der könnte doch nie … Nein, das wäre viel zu hässlich. Niemals.“
„Die zwei hatten vielleicht was miteinander“, rief Priscilla. „Ein Verbrechen aus Leidenschaft.“
„Reynolds ist viel zu zart, zu schön, zu höflich für so was. Für den leg ich meine Hand ins Feuer“, bekräftigte die Rauhaar eindringlich.
Wir kamen nicht weiter, daher fragte ich in die Runde: „Also jetzt ist es dann bald jeder hier drin gewesen, wer ist dann noch unschuldig?“
„Na, wir drei!“ Die Rauhaar prustete Kekskrümel über den Sofatisch. Priscilla wischte sich rasch etwas von der Backe, sodass es nicht auffiel.
„Die Feldner-Schwestern sind auch harmlos“, zählte Priscilla weiter auf. „Und Marco Bentivoglio …“
Die Rauhaar befeuerte auf einmal explosive Energie. „Ha! So harmlos ist der nicht. Für den war Enis ja sogar beim IS! Immer schön höflich und unterwürfig und dann seinen Hass rauslassen, sein wahres Gesicht zeigen. Ist ja anstrengend, sich immer zu verstellen, da kann man dann schon mal ausrasten.“
„Bentivoglio bitten immer alle um Gefallen und er sagt nie Nein “, wusste auch Priscilla.
„Und die Feldners sind auch nicht so reizend, wie sie tun“, fuhr die Rauhaar energisch fort. „Die haben dem Enis schöne Augen gemacht. Wollten ihn verführen, die Luder. Diese Araber sind schöne Männer. Da haben sie einen im Haus und wollen ihn prompt vernaschen. Sexsüchtig sind die …“
Ich besänftigte die Rauhaar und fügte in leisem Ton an: „Schöne Augen machen ist ja noch kein Verbrechen.“
Priscilla klatschte sich auf die Schenkel. „Wisst ihr, wen wir vergessen haben?“ Sie wartete auf unsere Reaktion. Mir fiel absolut niemand ein. „Zimmermann!“
„Der liebe Zimmermann“, seufzte die Rauhaar.
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