Was ich gehört hatte, machte mir Angst. Nicht, dass ich Enis für ein IS-Mitglied hielt, mit allen Folgen, die das für uns hier drinnen haben konnte. Es war die Rohheit Marinas, die mich erschreckte. Wäre jemand, der so wenig Empathie für andere empfand, dem, um es genauer zu formulieren, der Tod eines Nachbarn am Arsch vorbeiging , nicht auch irgendwann zu schlimmeren Übergriffen fähig als zu bloßen Verbalattacken?
Und nicht nur das machte mir Angst. Samstags herrschte normalerweise viel Betrieb im Haus, ein Kommen und Gehen. An diesem Samstag war aber das Haus wie ausgestorben. Nicht einmal Boris Johnson und Churchill bellten. Da ich mich wie gesagt mit Paranormalem und nebenbei auch mit Geistern beschäftige, drängte sich mir die Vorstellung auf, dass Enis nach seinem Tod – in welcher Form auch immer – noch im Haus umherwandelte, die Einwohner das diffus spürten und sich so jeder vor dem Unheimlichen, dem Unbegreiflichen in seinen eigenen vier Wänden verschanzte. Auf jeden Fall waren die Verzweiflung und die Ängste noch gegenwärtig, die Enis ausgestanden haben musste, um eine so schwerwiegende Entscheidung zu treffen. Sie hingen in der Luft, sie hüllten das Haus in eine Todeswolke, machten es zu einem Totenhaus. Und zumindest das konnte wohl jeder spüren.
Am Sonntag stellte sich dann heraus, dass Enis vor seinem Tod ganz andere als die von mir angenommenen Ängste ausgestanden haben musste.
Die Polizei kam ins Haus, klingelte an jeder Tür, befragte uns alle.
Enis El Agha hatte Prellungen am ganzen Körper und Würgemale am Hals gehabt, die er sich nicht selbst hätte beibringen können. Es sah nach einem Kampf aus. Jemand hatte ihn aller Wahrscheinlichkeit nach übers Geländer seiner Terrasse gestürzt, oder es war im Handgemenge einfach passiert.
Wir waren von einem Totenhaus, wie es aussah, zu einem Mörderhaus avanciert. Und das Verbrechen hinge hier nach meinen Annahmen fortan in der Luft, würde sich nicht mehr aus den Mauern lösen.
Das war noch schlimmer. Neben dem Tod haftete dem Haus nun auch noch etwas Böses an.
Die zwei Polizisten, die mich im Treppenhaus vor meiner Wohnung befragten, waren freundlich. Sie wollten wissen, ob ich Enis gekannt und irgendetwas Ungewöhnliches im Haus beobachtet hatte. Als ich beides verneinte, wollten sie nicht mehr viel von mir. Ich hatte den Eindruck, sie hielten mich für unverdächtig. Sie fragten mich noch, ob ich wisse, wann Herr Zimmermann da sei. Ich sagte ihnen, dass Leonardo Zimmermann das Wochenende bei seiner geschiedenen Frau und seinen beiden Söhnen im Westend verbrachte.
Zimmermann hatte die Penthousewohnung schon lange vor seiner Scheidung gemietet. Es wurde im Haus gemunkelt, dass er dort seine Geliebte traf. Niemand hat aber je diese Geliebte gesehen. Entweder war sie ungemein diskret oder es gab keine Geliebte und Zimmermann wollte einfach irgendwo Ruhe vor seiner Familie haben. Nach der Scheidung hatte Zimmermann die Villa im Westend seiner Familie überlassen und war ganz in unser Haus gezogen. Er lebte hier nun schon ein Jahr fest, und es schien ihm zu gefallen. Seine monatlichen Aperitif-Einladungen haben das Haus-Klima bedeutend verbessert. Die Abende bei Zimmermann waren nicht nur ausgelassen, sie hatten etwas Familiäres. Man fühlte sich nach einer Einladung bei ihm mehr zu Hause im Haus, zugehörig. Das Haus erhielt etwas Heimeliges, zumindest für eine kurze Zeitspanne danach. Ich hoffte, diese Einladungen würden nach dem erschreckenden Tod von Enis nicht ausgesetzt. Ich gebe zu, es war taktlos von mir, das zu hoffen. So ist der Mensch, er kann ohne Weiteres in einer Schreckens-, einer Trauersituation an ein Vergnügen denken; vielleicht nur, um nicht unterzugehen.
Im Hintergrund ging Matt Reynolds vorbei, die Treppe hinunter. Er nahm nie den Aufzug. Die Polizisten drehten sich um. Matt hob die Hand zum Gruß und ging weiter. Anscheinend hatten die Polizisten Matt schon befragt.
Die Polizisten verabschiedeten sich von mir und gaben mir eine Karte mit einer Nummer, die ich anrufen sollte, wenn mir etwas einfiele, etwas, das ich gesehen oder gehört hätte und das hilfreich für die Aufklärung des Verbrechens sein könnte.
Als ich wieder alleine in meiner Wohnung war, fragte ich mich, ob Matt wirklich so bleich gewesen war, mit so dunklen Ringen um die Augen, oder ob die Neonbeleuchtung im Treppenhaus ihn so ungesund aussehen ließ.
Matt hatte es eilig gehabt. Als wollte er nur raus aus dem Haus. So fühlte ich mich jetzt auch. Ein Verbrechen war im Haus geschehen. Das Haus war noch nie ein kuscheliges Heim gewesen und nun schon gar nicht mehr. Klar, dass man sich an einem solchen Ort nicht mehr wohlfühlte und schon gar nicht mehr alleine wohlfühlte. Ich rief deshalb gleich Priscilla an. Ich musste mit jemandem reden, und ich wollte auch wissen, was die Polizei sie gefragt hatte.
Die Polizei hatte Priscilla unter anderem Fragen über die restlichen Bewohner gestellt. Priscilla hatte geantwortet, dass man im Haus nicht viele Kontakte untereinander hatte, sie engeren Kontakt eigentlich nur zu mir pflegte. Und dass man sich ansonsten privat nur bei Zimmermann einmal im Monat zum Aperitif traf. Dass wir einander im Haus nur flüchtig kannten, wunderte die Polizisten nicht. Das war in den meisten Mietshäusern so. Alle waren so mit sich selbst beschäftigt, dass Einladungen von Nachbarn eine Seltenheit waren. Man lud ja nicht einmal mehr Arbeitskollegen oder Freunde ein. Gewundert hat sie allerdings Zimmermanns Gastfreundschaft. Die fiel aus dem Rahmen in unserer müden Zeit.
Als Priscilla vorschlug, zu mir zu kommen, um das schreckliche Vorkommnis zu bereden, war ich erleichtert. Unter normalen Umständen hätte ich an meinem Manuskript über das Gedächtnis von Dingen und Orten weitergeschrieben. Daran war aber heute nicht zu denken. Ich konnte mich nicht konzentrieren, konnte nicht zur Tagesordnung übergehen. Ich war verstört, verängstigt.
Priscilla kam nicht alleine, sie war in Begleitung der Rauhaar. Was mir sonst aufdringlich erschienen wäre, einfach ohne Anmeldung bei mir hereinzuschneien, kam mir heute gelegen. Je mehr Personen zu mir kamen, umso sicherer fühlte ich mich. Ich freute mich sogar, dass Priscilla an die Rauhaar gedacht hatte; die Rauhaar war bekannt dafür, dass sie überall im Haus herumschnüffelte, wahrscheinlich ungemein viel Zeit hinter dem Spion ihrer Wohnungstür verbrachte und womöglich unverhohlen im Treppenhaus an den Türen horchte. Sie arbeitete zwar hier und da noch, nahm Verbesserungsarbeiten an, um ihre Rente aufzubessern, ihr war aber häufig langweilig ... Wenn wir uns im Treppenhaus über den Weg liefen, erzählte sie mir sofort den neuesten Klatsch aus dem Haus. Sie wusste einfach alles, was hier drin los war.
Der Sonntagnachmittag war gerettet. Ein Funken Gemütlichkeit kehrte zurück, als ich den beiden auf dem Sofa Kaffee und Zitronenkekse servierte. Bücher und Papiere hatte ich so zur Seite geschoben, dass die beiden gerade Platz hatten und auch auf dem Fußboden nicht über Bücher und Zettelhaufen steigen mussten.
Die Rauhaar trug ein schwarzes T-Shirt mit Spitzenkragen, einen engen weißen Rock, und grellroten Lippenstift. Sie brachte es fertig, sich in wenigen Minuten in Schale zu werfen. Sie sah immer gut aus; die billigste Kleidung konnte sie so drapieren und kombinieren, dass es geschmackvoll aussah. Ein bisschen berührte mich ihre Aufmachung seltsam; sie schien das hier womöglich als Auftritt anzusehen. Priscilla schien Ähnliches zu überlegen, sie musterte die Rauhaar rätselhaft lächelnd.
Zuerst erklärte jede gefühlvoll und ausführlich, wie sehr sie das Verbrechen schockiert hatte. Es war die obligate Einleitung. In so einem Fall konnte man nicht unmittelbar zum Tratsch übergehen. Erst als wir minutenlang unseren Horror ausgebreitet hatten, stellten wir uns die ersten Fragen.
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