„Was glaubt ihr, wer es getan hat?“ Ich hielt Priscillas Frage zunächst für überflüssig. „Jemand von draußen oder jemand aus dem Haus?“ Als ich den Nachsatz gehört hatte, erschien mir die Frage allerdings nicht mehr so dumm.
Die Augen der Rauhaar weiteten sich. „Genau das habe ich mich auch gefragt. Und ich tendiere zu jemandem aus dem Haus .“ Die Rauhaar klang vollkommen überzeugt, als wäre das alternativlos.
„Aber wir kennen doch Enis praktisch nicht. Mehr als im Treppenhaus Hallo gesagt, hat niemand von uns. Wer sind seine Freunde, wer sind seine Feinde, woher sollen wir das wissen?“
„Er war noch nicht lange hier. Und er war schüchtern. Viele Freunde kann er nicht gehabt haben“, warf Priscilla ein.
Die Rauhaar glühte. „Genau! Und Feinde, die hatte er hier im Haus.“
Ich musste daran denken, wie hässlich sich einige über Enis während der Party geäußert hatten. Aber war das schon verdächtig?
Wir blickten die Rauhaar an.
Sie lächelte, genoss es, kostete unsere Aufmerksamkeit aus. „Ihr habt ja wohl mitbekommen, dass Jean immer wieder Ramona mobbt …“
Ich zuckte mit den Schultern. Was hatten Jean und Ramona mit Enis zu tun?
„… Ramona ist schwarz …“
Ich korrigierte: „Mulattin.“ Ramona war aus Sao Paolo.
„… und Jean ist Rassist“, fuhr die Rauhaar unverblümt fort. Jean hatte sich ihr gegenüber anscheinend beklagt, dass solche Leute wie Ramona im Haus wohnten. Wenn noch mehr solche einzögen, würde das Haus asozial, war, so die Rauhaar, sein Fazit.
Priscilla verzog den Mund. „Ich bin mir nicht ganz sicher, ob Jean Ramonas Hautfarbe stört. Es kann auch ihre Bardamen-Vergangenheit sein, ihre vulgäre Kleidung.“
Die Rauhaar wedelte mit der Hand, als fächle sie Priscillas Beitrag weg, und fuhr ungerührt fort: „Wisst ihr noch, wie er Ramona Hundedreck vor die Tür gekippt hat? Nur ganz wenig, sodass sie es nicht gleich bemerkt, aus Versehen reintritt und den Gestank bei sich in der Wohnung und im ganzen Treppenhaus verbreitet. Ich habe ihn dabei beobachtet!“ Die Rauhaar hatte uns die Geschichte damals haarklein berichtet. Sie war quasi stolz gewesen, Jean bei so einer Frechheit ertappt zu haben.
Ich fand die Geschichte unglaubwürdig. Es war einfach zu kindisch.
Die Rauhaar wollte uns auch weismachen, dass Jean Ramona regelmäßig herabsetzte. Dass er sie wiederholt in der Waschküche demütigte, darüber hätte Ramona sich sogar bei ihr höchstpersönlich weinend beklagt. Wenn Ramona wusch, sei Jean öfters in die Waschküche gekommen und habe geschimpft, wie dreckig es dort sei. Er habe Ramona dann im Befehlston angeherrscht: Jetzt wisch mal schnell den Boden auf und leer endlich das Flusensieb . Jean habe Ramona wie eine Putzfrau behandelt, wo es doch Aufgabe des Hausmeisters war, die Böden zu reinigen und die Maschinen zu säubern.
Ich konnte mir schwer vorstellen, dass das stimmte. Insbesondere konnte ich mir nicht vorstellen, dass Ramona sich der Rauhaar anvertraut haben sollte. Die beiden hatten kaum etwas miteinander zu tun. Schon kleidungsmäßig war die eine das Gegenteil der anderen.
„Ich verstehe immer noch nicht, was Jean und Ramona mit Enis zu tun haben“, bemerkte Priscilla vorsichtig.
„Aber das ist doch sonnenklar! Kannst du Schwarze nicht leiden, hasst du auch Muslime.“ Die Rauhaar machte eine Pause, um uns Gelegenheit zum Begreifen zu geben. „Wer Rassen verachtet, hat auch mit anderen Religionen ein Problem. Das geht meist Hand in Hand.“
„Sie meinen, wer eine dunkelhäutige Brasilianerin provoziert, der ist auch imstande, einen muslimischen Syrer zu töten?“, fragte ich vorsichtig.
Die Rauhaar schlürfte nachdenklich Kaffee in den Mund. „Ich habe mir da so meine Gedanken gemacht.“
Aha.
„Jean ist fast vierzig und lebt vom Vermögen seiner Eltern. Er hat noch nie gearbeitet. Die Leute piesacken ihn deshalb immer wieder, und daher ist er dauerfrustriert. Er kommt sich wertlos vor, und doch kann er aus irgendeinem Grund keiner Arbeit nachgehen. Statt die zu hassen, die ihn quälen, weil sie keinen anderen Lebensentwurf dulden, hasst er Menschen, die von denselben Leuten noch mehr verachtet werden, die auf einer vermeintlich noch tieferen Stufe stehen als er selbst. Und an denen lässt er seinen Frust aus.“
Es erstaunte mich, was die Rauhaar da zusammentheoretisierte und wie sie es formuliert hatte. Es war für sich genommen ziemlich stimmig. Nur passte es meiner Ansicht nach weder auf Jean, noch stand Enis El Agha auf einer tieferen Stufe als Jean. Enis hat Medizin studiert, seine Eltern schienen wohlhabend zu sein ...
Priscilla konnte Rauhaars Äußerungen etwas abgewinnen. „Sie meinen, Jean ist nach Jahren des Dauerfrusts einfach ausgerastet, wie es in den USA immer wieder passiert? Ein frustrierter Arbeitnehmer steckt nach Feierabend stundenlang im Stau, die Wut schäumt über, er steigt aus und schießt wahllos in die Wagen neben ihm, tötet Leute, die er nicht einmal kennt ...“
Die Rauhaar nickte in Zeitlupe, sodass es bedeutungsschwanger aussah. „So ähnlich …“, räusperte sie sich.
Das ist doch an den Haaren herbeigezogen, dachte ich, schwieg aber. Ich wollte die Rauhaar nicht kränken. Um die Unterhaltung aus der Sackgasse zu manövrieren, lenkte ich die Aufmerksamkeit von Jean weg. „Bei Zimmermann zogen ja so einige über Enis her. Nicht nur Jean. Erinnert ihr euch, was Marina über Enis sagte?“, bemerkte ich laut. Noch im Nachhinein bekomme ich eine Gänsehaut, wenn ich zurückdenke, wie hasserfüllt sich Marina damals über Enis ausließ. Und das, ohne ihn eigentlich zu kennen … „Ist sie deshalb schon verdächtig? Jemanden zu hassen und jemanden umbringen, da liegen Welten dazwischen …“
Sofort unterbrach mich die Rauhaar, bevor ich noch weitere Ausführungen machen konnte. „ Sie hat Enis als Asylanten bezeichnet. Enis war für Marina jemand, der sich vom Staat Leistungen erschleicht. Und der Gipfel ist: Sie hat Unterschriften gesammelt, um Enis aus dem Haus zu mobben.“ Die Rauhaar machte eine Wirkungspause. „Da sind wir also bei meiner Verdächtigen Nummer zwei.“
Priscilla schmunzelte. Marina gefiel Priscilla offensichtlich als Verdächtige; Marina hatte schließlich ihre Lieblinge, Boris und Churchill, und damit sie selbst persönlich angegriffen.
„Marina tat gerade so, als sei sie die Steuerzahlerin, die Enis‘ Miete finanziert“, triumphierte die Rauhaar.
„So ist sie“, schmunzelte Priscilla, „sie bezieht immer alles auf sich.“
Die Rauhaar fuhr unbeirrt fort: „Sehen wir uns also Marina genauer an. Marina ist gegen alle hier drin aggressiv und sie ist ausländerfeindlich. Sie hackt ständig auf Jean herum, bezeichnet ihn als Nichtsnutz, der nichts verdient, und auf Ramona schimpfen sie gemeinsam. Marina hat auch mich neulich wieder gegen Ramona aufwiegeln wollen; sie meinte, dass in unserem Haus keine Prostituierte wohnen dürfte, sie sich ekle, in derselben Waschmaschine zu waschen wie Ramona – wer wisse, was die für Sexualkrankheiten habe –, und dass Ramona sicher auch mit Drogen handle. Und Marina wollte, dass wir es der Verwaltung stecken.“
Priscilla kicherte. „Marina verpetzt gerne Leute. Mich wollte sie schon mal beim Tierschutz anzeigen. Dabei sind ihr die Hunde scheißegal. Sie weiß, wie wichtig die Hunde für mich sind. Ich habe keine Familie. Boris und Churchill sind meine Familie. Und deshalb wollte sie mir die Hunde, das Liebste, wegnehmen.“ Sie holte Luft. „Man muss es so sehen: Marina sucht sich eine Schwachstelle und haut rein. Die Hunde sind meine Schwachstelle. Wenn sie mir jemand wegnimmt, geh ich drauf.“
Ich kannte Marinas Verhalten nur zu gut, schließlich war ich mit ihr kurze Zeit befreundet gewesen. Weil sie mich bei jeder Gelegenheit herabsetzte, habe ich die Freundschaft aufgekündigt. Sie muss begriffen haben, dass ich ein schlechtes Selbstbewusstsein habe und in die Kerbe hat sie geschlagen. Was ich tat, war dümmlich, meine Forschungsarbeit war verstiegen, selbst meine Kleidung kritisierte sie. „Was trägst du für eine billige Fahne“, sagte sie immer, wenn ich ein Kleid trug, was selten genug vorkam. Marina war eindeutig ein Biest. War sie aber deshalb schon tatverdächtig?
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