Für Mary-Rose: Was auf dem Berg gesagt wird, bleibt auf dem Berg.
Die Times
Brisbane, Mai 1901
Es wird angenommen, dass alle zweiundzwanzig Seelen, die sich an Bord der Bark Aurora befanden, in einem Hurrikan vor der Ostküste Australiens ums Leben gekommen sind. An Bord des Schiffes befand sich auch Mr. Arthur Winterbourne, der älteste Sohn Lord Winterbournes, des verstorbenen Londoner Juweliers. Mr. Winterbourne und seine Frau sollten dem neuen australischen Parlament ein Geschenk Ihrer Majestät Königin Victoria überbringen. Angeblich handelt es sich bei diesem Geschenk um einen Amtsstab von unschätzbarem Wert, der aus Gold und kostbaren Edelsteinen gefertigt wurde. Wahrscheinlich wird Mr. Percy Winterbourne, der zweitgeborene Sohn, nach Australien reisen, um den Wertgegenstand zu suchen.
Die weiße Haut der Frau schimmert im grellen Sonnenlicht. Ihr blassblaues Kleid haftet nass an ihren Knöcheln. Der Himmel tut ihren Augen weh; es ist, als könnte sie hinter dem Blau den gewaltigen Bogen des Kosmos erkennen. Der Sand knirscht unter ihren nackten Füßen. Ihre Schuhe wurden vom Meer verschlungen. Ihr ganzes Hab und Gut, ihr Ehemann. Alles verloren, hinuntergewirbelt ins kalte, dunkle Salzwasser. Alles außer der Kiste, die sie hinter sich über den Sand schleift.
Ein Schritt nach dem anderen. Sie hat kein menschliches Gesicht gesehen, seit sich der Griff ihres Mannes löste und er zwischen dem Schiff und dem Rettungsboot verschwand. Er wirkte beinahe überrascht.
Ihre Arme schmerzen, doch sie wird die Kiste nicht loslassen, nicht solange noch Atem in ihren Lungen ist. Darin befindet sich etwas so Kostbares, dass ihr Herz bei dem Gedanken, es zu verlieren, fast den Brustkorb sprengt. Das Meer rollt donnernd heran und zieht sich zurück, rollt wieder heran und zieht sich zurück, wie seit ihrem ersten Schritt. Zuerst fand sie das Geräusch beruhigend, doch nun ärgert sie sich darüber. Sie will Stille in ihrem Kopf. Stille, um in Ruhe nachzudenken – über das, was geschehen ist, was sie verloren hat und was um alles in der Welt sie als Nächstes tun soll.
2011
Libby saß ganz hinten in der kleinen Dorfkirche und trauerte um den Mann, den sie zwölf Jahre lang geliebt hatte. In einer Trauergemeinde von beinahe achtzig Menschen bot ihr niemand eine warme Berührung oder ein mitfühlendes Lächeln an. Sie wussten nicht einmal, wer sie war. Und wenn doch, zeigten sie es nicht.
In mancher Hinsicht war es eine Erleichterung. Immerhin gab es keine Seitenblicke, kein Gemurmel, das hinter vorgehaltenen Händen von Lippen zu Ohren wanderte, keine kalten Schultern rechts und links von ihr in der Bank. Andererseits war es aber auch ein trauriger Beweis für die schmutzige Wahrheit. Niemand wusste, dass der Mann, von dem sie sich heute verabschiedeten – der Mann, dessen starken Körper und strahlende Lebenskraft man irgendwie in die schmale Kiste vorn am Altar gezwängt hatte –, für sie der wichtigste Mensch der Welt gewesen war. Mark Winterbourne, mit achtundfünfzig an einem Aneurysma gestorben. Betrauert von seiner Familie: von seiner Frau Emily und den beiden erwachsenen Töchtern.
Libby war sich nicht sicher, welche Regeln für eine heimliche Geliebte galten. Vermutlich musste diese in der hintersten Kirchenbank sitzen, während ihr Herz weh tat, als könnte es in tausend Stücke brechen, und gleichzeitig gegen den Impuls ankämpfen, aufzustehen und laut zu rufen: »Aber keiner von euch hat ihn so geliebt wie ich!«
An ihrem Geburtstag. Ihrem vierzigsten Geburtstag.
Wieder wischte Libby diskret die Tränen weg. In der Kirche war es kühl. Draußen lag noch Schnee. Sie zitterte in ihrem Blazer. Mark hätte nicht gefallen, was sie anhatte. Er hatte sie in Kostümen nie gemocht und gesagt, er verbringe schon genügend Zeit mit Leuten in Anzügen. Er mochte sie in Jeans, weiten Kleidern oder nackt. Als sie heute Morgen den Blazer angezogen hatte, um in der tadellos gekleideten Menge nicht aufzufallen, hatte sie sich daran erinnert, wie sie ihn das letzte Mal getragen hatte. Mark hatte gefragt: »Wo ist denn das Spitzen-Shirt, das ich so gerne mag? Zieh das doch an.« Der Gedanke, dass Mark sich nie wieder über den Blazer beschweren würde, hatte sie tief getroffen. Nie wieder würde Mark mit ihr sprechen. Nie wieder würden sich Fältchen um seine Augen kräuseln, wenn er leise lachte. Nie wieder würden seine Hände ihre umschließen, seine Lippen ihre fordern, sein Körper sich gegen ihren drücken …
Libbys Kopfhaut tat weh, weil sie sich so anspannte, um das Schluchzen zu unterdrücken. Es gehörte sich nicht, dass die unbekannte Frau in der letzten Bank zusammenbrach und ein Geheimnis preisgab, das sie so lange bewahrt hatte. Darin war Mark stets unerbittlich gewesen: Seine Frau und die Kinder durften niemals verletzt werden. Sie waren unschuldig und hatten diesen Schmerz nicht verdient. Mark und Libby mussten die ganze Last alleine tragen. Und was für eine furchtbare Last es gewesen war, was für ein erschöpfender Tanz aus hochfliegenden Hoffnungen und wahnsinniger Schuld die letzten zwölf Jahre gewesen waren.
Dann begann die erste Trauerrede, und Libby hörte eine Weile zu, bevor sie feststellte, dass diese Beschreibungen überhaupt nichts mit ihrem Mark zu tun hatten. Also schloss sie die Augen und dachte darüber nach, was sie sagen würde, wenn sie es dürfte.
Mark Winterbourne starb mit achtundfünfzig, aber Sie sollten nicht den Fehler begehen, ihn für einen typischen Mann mittleren Alters zu halten. Er war groß und gepflegt, mit vollem Haar und flachem Bauch und muskulösen Oberschenkeln, die von seiner gesunden Lebensweise und seiner Liebe für Langstreckenläufe zeugten. Er war klug und witzig und entschlossen. Er ließ sich von nichts aufhalten. Er hatte als Kind Krankheiten durchgestanden, mit seiner Dyslexie zu kämpfen gehabt und den Vater verloren, als er erst fünfzehn war. Wir hatten schöne Zeiten miteinander, auch wenn sie gestohlen waren und im Verborgenen stattfanden. Selbst nach zwölf Jahren war er immer noch atemberaubend. Er war großzügig, lieb und freundlich. So freundlich. Der freundlichste Mensch, den ich je gekannt habe. Heiße Tränen quollen unter ihren Augenlidern hervor und liefen über ihre Wangen. Sie öffnete die Augen und sah, dass Marks Frau in der ersten Bank mit gesenktem Kopf dasaß und in die Hände schluchzte. Der Vikar war die Stufen heruntergekommen und hatte den Arm um sie gelegt. Libbys Brust wurde eng, sie hatte ein schlechtes Gewissen. Sie hätte niemals herkommen dürfen.
Der Zug, mit dem sie durch den Kanaltunnel nach Paris fuhr, war weitestgehend leer, so dass sie die Tasche auf den Sitz neben sich stellen und den Kopf darauf ablegen konnte. Die große Leere konnte kommen. Mark war begraben; sechs Fuß Erde markierten die Grenze zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben. Sie versuchte, nicht an die Dinge zu denken, die sie und Mark nie getan hatten, die er hatte tun wollen, die sie ihm aber verweigert hatte. Dinge, die sie nun, da sie allein war, selbst angehen musste. Nun, da sie so schmerzlich begriffen hatte, wie zerbrechlich das Leben war. Der Zug holperte und schwankte, und Libby atmete tief durch. Ein, aus, achtsam gegenüber ihrem Atem, der nur vorübergehend in ihrem warmen Körper wohnte.
»Claudette will dich sprechen.«
Libby blickte auf. Sie nahm gerade ihren Schal ab und hängte die Handtasche an die Stuhllehne. Die Arbeitsnischen bei Pierre-Louis Design waren nichtssagend, während der Empfangsbereich strahlend hell wirkte. Libby arbeitete den ganzen Tag an ihrem Mac mit dem großen Bildschirm, umgeben von grauen Möbeln und beigefarbenen Raumteilern, und entwarf Hochglanzbroschüren für Schmuck und Modehäuser. Das ganze Gebäude war nach und nach renoviert worden, aber irgendwie hatte man es nie bis in ihre Ecke geschafft.
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