Doch sie ging weiter. Innerlich zerbrochen, aber immer noch atmend, bewegte sie ihren Körper vorwärts. Sie ging durch die Reihen der Gräber zum Auto und las dabei flüchtig die Inschriften. Die meisten Namen waren unbekannt. Doch unter den ausladenden Ästen eines Baumes fand sie einen, den sie gut kannte. Andrew Nicholson. Sie fragte sich, ob Juliet noch immer sein Grab besuchte.
Libby stieg ins Auto. Heute konnte sie es nicht ertragen, ihr gegenüberzutreten. Sie würde sich nur der einfachen und doch überwältigenden Aufgabe stellen, sich das Cottage anzusehen, das Mark für sie – sie beide – gekauft hatte.
Sie erkannte das Cottage auf den ersten Blick wieder. Es stand allein am Ende des Kiesweges, der zum Leuchtturm führte. Mark hatte ihr nicht nur Fotos gezeigt, sie erinnerte sich auch aus ihrer Kindheit daran. Das Cottage war in den 1940er Jahren für den Leuchtturmwärter erbaut worden. Als sie in Lighthouse Bay gelebt hatte, stand das Cottage leer. Pirate Pete wollte lieber im Leuchtturm selbst leben, der noch aus dem 19. Jahrhundert stammte. Der Gedanke an ihn weckte weitere Erinnerungen. Für sie und ihre Freundinnen war es eine Mutprobe gewesen, zum Leuchtturm zu laufen und kichernd an die Tür zu klopfen. Pirate Pete mit dem langen grauen Bart und den eiskalten Augen riss dann die Tür auf und brüllte: »Zum Teufel noch mal, lasst mich in Ruhe!« Sie hatten sich bei ihren Übernachtungspartys gerne Gruselgeschichten über ihn erzählt. Natürlich war er kein Pirat. Er war nur der Leuchtturmwärter und vermutlich ein einsamer alter Mann.
Sie hielt in der überwucherten Einfahrt und stellte den Motor ab. Dann blieb sie ein paar Minuten einfach sitzen, die Hände am Lenkrad, und überließ sich ganz ihren Gedanken und Erinnerungen. Sie hatte die Schlüssel in der Handtasche – Schlüssel, die sie nie hatte benutzen wollen. Libby seufzte. Sie hatte sich diese Woche ihres Lebens anders vorgestellt. Sie hatte nicht damit gerechnet, in Trauer nach Hause zurückzukehren, ohne Arbeit, in ein Cottage, das ihr zwar gehörte, das sie aber noch nie betreten hatte.
Mark war einmal im Jahr nach Queensland gereist, um Opale zu kaufen. Vor sechs Jahren hatte er einen Abstecher zum nahe gelegenen Winterbourne Beach gemacht, der nach seiner Familie benannt und bei Tauchern beliebt war, weil seine Vorfahren bei einem Schiffbruch Anfang des 20. Jahrhunderts dort einen legendären Schatz verloren hatten. »Wie hätte ich nicht dorthin fahren und mir den Ort ansehen können, an dem mein kleines Mädchen geboren und aufgewachsen ist?«, hatte er gesagt. »Das Cottage stand zum Verkauf, und ich wollte dir zeigen, wie sehr ich dich liebe.«
Sie kämpfte mit den Tränen, griff nach ihrer Handtasche und stieg aus. Der erste Schlüssel passte gleich an der Tür, und schon stand sie im Haus.
Muffig. Alter Kram. Juckender Staub. Die Fensterscheiben waren mit einer dünnen Salzkruste überzogen, die den Blick nach draußen verschleierte. Erste Aufgabe: putzen. Sie ging durchs Wohnzimmer – braune Fliesen, fadenscheiniger brauner Teppich, alter quadratischer Holztisch, keine Stühle – und entriegelte die Fenster. Dann schob sie sie mit einem heftigen Ruck auf, um die Meeresluft hereinzulassen. Das Haus mochte in den 1940ern gebaut worden sein, doch die Einrichtung stammte komplett aus den siebziger Jahren. Die Sitzbank in der Küche war mit leuchtend grünem Laminat überzogen, der Spritzschutz hinter der Spüle bestand aus winzigen Kacheln, die aussahen wie der schmutzige Schaum auf einem Teich. Der Gasherd war mit Spinnweben überzogen und mit dem Kot von Küchenschaben übersät. Zweite Aufgabe: alles mit Industriereiniger säubern.
Ein kleiner Flur führte zu einem altmodischen Badezimmer, einer Waschküche mit Hintertür und zwei Schlafzimmern. Das erste war größer und in einem blassen Rosa gestrichen. Darin stand ein schmiedeeisernes Doppelbett, dessen Matratze noch in Folie verpackt war. Ein rascher Blick in die Schränke enthüllte blassgrüne Bettwäsche, ebenfalls originalverpackt. Sie hielt inne und holte tief Luft.
Einmal wären sie fast hergeflogen. Mark hatte sich freigenommen, und Libby hatte die Farben für das Schlafzimmer ausgesucht. Genau diese Farben. Doch eine Woche vor dem Flug hatte sie kalte Füße bekommen. »Gib mir noch sechs Monate«, hatte sie gesagt. »Ich schreibe Juliet und frage nach, was sie davon hält. Es hat viel böses Blut zwischen uns gegeben.«
»Wieso böses Blut?«
Doch sie hatte es ihm nie erzählen können. Ihre Bindung war so zerbrechlich: Sie hatte Angst gehabt, ihn zu verlieren, wenn sie ihre Scham und ihre Schuldgefühle eingestand. Aus sechs Monaten wurde ein Jahr. Aus einem Jahr wurden zwei. Sie hatte Juliet nicht geschrieben, und er hatte nicht mehr gefragt: Vielleicht glaubte er, er könne sie allmählich überzeugen. Doch ihnen war die Zeit davongelaufen.
Das zweite Schlafzimmer war sehr klein; eher ein Hinterzimmer, dessen eine Wand komplett aus Schiebefenstern bestand. Es war als Atelier eingerichtet. Zwei leere Leinwände auf Staffeleien, mit Spinnweben überzogen. Plötzlich überwältigte sie die Trauer, und sie musste sich weinend auf den Boden setzen.
Als Mark das Cottage gekauft hatte, hatte sie sich gefragt, weshalb sie an einen Ort zurückkehren sollte, den sie unter gar keinen Umständen wiedersehen wollte. Doch in Wirklichkeit hatte er sich nur gewünscht, dass sie den Job bei Pierre-Louis aufgab und das Leben ein bisschen leichter nahm, sich entspannte und malte, wovon sie schon als Kind geträumt hatte. Und hier war nun alles: ein kleines Cottage, der Blick aufs Meer, ein Anfang. Doch Mark konnte nicht sehen, wie dankbar sie war, wie sehr sie diese Geste der Liebe zu schätzen wusste.
Libby weinte eine halbe Ewigkeit, bevor sie sich aufrappelte und die Tränen abwischte. Sie betätigte den Lichtschalter: nichts. Kein Strom. Sie ging in die Küche. Der leere Kühlschrank stand offen. Auch der Vorratsschrank war leer. Keine Reinigungsmittel oder Spültücher vorhanden. Sie brauchte eine Grundausstattung. Mit anderen Worten, sie musste einkaufen gehen. Je länger sie sich in der Stadt aufhielt, desto größer war die Gefahr, ihrer Schwester zufällig über den Weg zu laufen. Aber sie konnte sich noch nicht überwinden, zu ihr zu fahren. Noch eine Nacht darüber schlafen, dann wäre sie so weit. Definitiv.
Die klebrige Hitze machte sie müde. Libby wollte sich einfach nur zusammenrollen und schlafen, musste aber zuerst das Haus in Ordnung bringen. Sie zog ein ärmelloses Top und Shorts an, band das lange, dunkle Haar nach hinten und nahm ihre ganze Energie zusammen. Bei Sonnenuntergang war sie mit einer dünnen Schicht aus Schweiß und Spinnweben bedeckt. Sie spielte mit dem Gedanken, unter die Dusche zu gehen, doch dann fiel ihr ein, dass sie ja am Meer war. Also holte sie ihren Badeanzug und ging zum Strand hinunter.
Sie hatte viele Jahre in der Stadt gelebt, weit weg vom Meer, und war misstrauisch geworden. Wenn es nun Quallen gab? Oder Haie? Doch das blaugrüne Wasser war warm und klar und umspülte sie sanft. Sie watete bis zur Taille hinein und stürzte sich in eine Welle. Das Geräusch der Brandung wurde von dem Wasser verdrängt, das in ihren Ohren plätscherte. Dann tauchte sie auf und rang lachend nach Luft. Die Vorstellung, um diese Tageszeit im Meer zu schwimmen, war einfach unglaublich. In Paris würde sie jetzt Handschuhe und Schal anziehen, zur Metro gehen und sich zwischen die anderen Pendler zwängen. Hier am Strand war niemand außer ihr und einem Fischer, der einen halben Kilometer entfernt bis zu den Knöcheln im Wasser stand.
Sie ließ sich eine Weile auf dem Rücken treiben und von den Wellen tragen. Salzwasser auf den Lippen, ihr Haar breitete sich fächerförmig hinter ihr aus. Dann setzte sie sich in den Sand, um an der Luft zu trocknen. Die Dämmerung färbte den Himmel; grelles Rosa und Gold wichen allmählich einem dezenteren Violett und Zinngrau. Sie war wie in Samt gehüllt: der weiche Sand, der Dunst über dem Festland, die milde Brise und ihre eigene menschliche Weichheit, ihr Fleisch, ihre Muskeln und ihr schmerzendes Herz. Libby schloss die Augen.
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