»Weshalb denn?«
Ihre Sekretärin Monique schaute sie überrascht an. »Das weiß ich nicht. Aber sie hat gemeint, ich soll dir Bescheid sagen, sobald du hereinkommst.«
Libby seufzte. In der kleinen Wohnung in Levallois war schon das Aufstehen mühsam gewesen. Ihre Gliedmaßen hatten sich schwer angefühlt. Nach Marks Tod hatte sie sich fünf Tage krankgemeldet, was sie in gewisser Weise ja auch war. Ein Schmerz von den Zehenspitzen bis zur Kopfhaut. Und er würde nie vergehen. Sie würde nie wieder arbeitsfähig sein. »Na schön, ich bin gleich da.«
Als Libby vor zwanzig Jahren nach Paris gekommen war, hatte sie ein unbeholfenes Schulfranzösisch gesprochen. Jetzt beherrschte sie die Sprache fließend, konnte auf Französisch denken und vermisste dennoch ihr Englisch. Sie vermisste die vielen Nuancen, die die ganzen Synonyme boten, sie vermisste es, Adjektive wie Perlen auf eine Schnur reihen zu können, und es fiel ihr noch immer schwer, sich in Französisch auszudrücken, wenn sie aufgeregt war. Ihre Chefin Claudette hatte den Ruf, ihre Mitarbeiter aufzubringen, also musste Libby auf der Hut sein.
Claudettes Büro hatte deckenhohe Fenster, durch die sie den ganzen Tag auf die Seine blicken könnte. Doch Claudette hatte ihren Schreibtisch bewusst so plaziert, dass sie mit dem Rücken zum Fenster saß. Es war die einzige Veränderung, die sie bei ihrer Ankunft vor acht Monaten vorgenommen hatte, aber sie sprach Bände. Ihrer Ansicht nach hatte man nämlich keine Zeit, um aus dem Fenster zu schauen, und die entspannte Atmosphäre, die Libby früher so geschätzt hatte, war allmählich verschwunden.
»Ah, Libby«, sagte Claudette und deutete auf den Stuhl neben ihrem Tisch. »Setz dich. Wir müssen uns ein bisschen unterhalten.«
Libby setzte sich, obwohl ihr Herz raste, und versuchte, tief durchzuatmen, ohne dass Claudette es bemerkte. Sie schlug die Beine übereinander und wartete, während ihre Chefin sie mit eisblauen Augen musterte. Das Fenster stand offen, und sie konnte den Verkehr auf den beiden Brücken hören, die die Spitze der île Saint-Louis umrahmten.
»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte Claudette schließlich.
»Vielen Dank«, antwortete Libby verblüfft.
Pause. Claudette hatte noch immer nicht gelächelt.
»Ist das alles?«
»Ich bin etwas misstrauisch«, fuhr Claudette fort. »Du hast dir um deinen vierzigsten Geburtstag herum fünf Tage freigenommen.«
»Mir ging es nicht gut.«
»Trotzdem siehst du heute Morgen gut aus.«
Tatsächlich? »Weil ich fünf Tage freihatte.«
Claudette kniff die Augen zusammen und lehnte sich zurück, wobei sie einen Bleistift unablässig zwischen den Fingern drehte. »Ich muss dir wohl glauben. Doch ich lasse mich nicht gern zum Narren halten. Fünf Tage Arbeitsausfall kosten mich eine Menge Geld. Die Vorstellung, dass du deine Arbeitgeberin ausnutzt, nur weil du einen runden Geburtstag zu feiern hattest, ist nicht sonderlich erfreulich.«
Da Claudette für ihre spitzen Bemerkungen berühmt war, ließ Libby sich nicht aus der Ruhe bringen. »Ich versichere dir, dass ich nicht in der Lage war zu arbeiten.«
»Und doch hat dich Henri gestern im Gare du Nord gesehen.«
»Ich bin aus London zurückgekommen, ich war bei meinem Spezialisten.«
»Spezialist?«
Libby ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das ist privat.«
Claudette runzelte die Stirn. Libby kämpfte gegen ihr schlechtes Gewissen. Es lag nicht in ihrer Natur zu lügen, auch nicht nach zwölf Jahren mit Mark.
»Ich kann nur davon ausgehen, dass du die Wahrheit sagst«, erwiderte Claudette schließlich mit einem kleinen Schulterzucken.
»Es ist die Wahrheit«, log Libby.
Claudette schaute in ihren Terminkalender. »Da du gerade hier bist … heute Morgen habe ich erfahren, dass Mark Winterbourne gestorben ist. Du warst doch für seinen Etat verantwortlich, oder?«
Libbys Herz schrie auf, doch sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. »Ja.«
»Könntest du in seinem Büro anrufen und fragen, wer seine Position übernimmt? Wir haben seinen Etat seit zwölf Jahren, und ich möchte ihn nicht verlieren. Der Winterbourne-Katalog ist eines unserer Markenzeichen.«
»Ich soll heute dort anrufen? Normalerweise unterzeichnen wir den Vertrag doch erst Ende März.«
»Dort wird Chaos herrschen. Alles ist in der Schwebe. Wir können nicht riskieren, dass eine andere Agentur den Vertrag bekommt.« Claudette schüttelte den Kopf. »Er ist an einem Aneurysma gestorben. Angeboren, wie ich hörte. Er ist wohl nicht der erste Winterbourne, der davon betroffen war.«
Libby zuckte zusammen. Das hatte sie nicht gewusst. Obwohl sie einander so nahe gewesen waren, hatte er nie erwähnt, dass er jederzeit tot umfallen konnte. Hatte er es verschwiegen, damit sie sich keine Sorgen um ihn machte? Oder weil sie nur seine Geliebte war?
Claudette zuckte mit den Schultern. »Das Leben ist kurz. Wir brauchen den Auftrag. Ruf heute an.«
Libby kehrte mit weichen Knien an ihren Platz zurück. Wie sollte sie die vertraute Nummer wählen, wo er nicht mehr da war, um den Anruf entgegenzunehmen? Wie sollte sie an dem Katalog arbeiten, ohne ihn mit Mark zu planen? Ihr Job, einst ein Zufluchtsort, an dem der Kontakt mit Mark erlaubt war, erschien ihr plötzlich leer. Er bot nichts als beigefarbene Raumteiler und eine nörgelnde Chefin. Sie schaute lange auf ihren leeren Bildschirm – sie hatte den Computer noch gar nicht eingeschaltet – und fragte sich, ob man sich jemals von einem solchen Verlust erholen konnte. Dann stand sie auf, griff nach Handtasche, Schal und Mantel und verließ wortlos das Büro.
Sie würde nicht die Firma Winterbourne anrufen, sondern ihre Schwester.
Libby hockte auf dem Rand der gemieteten Couch in ihrer gemieteten Wohnung in der Villa Rémond und wählte die Telefonnummer ihrer Kindheit; vertraut und doch halb vergessen, verlängert durch die internationale Vorwahl. Als es klingelte, bemerkte sie, dass sie den Atem anhielt. Sie zwang sich, die Schultern zu entspannen.
»Hallo?«, krächzte eine Stimme, und ihr wurde klar, dass sie die Zeitverschiebung vergessen hatte. Sie hatte Juliet geweckt.
Sprachlos vor Scham und Schuldgefühl, dehnte sie das Schweigen zu sehr aus.
»Hallo?«, sagte Juliet noch einmal, diesmal mit einem Hauch von Angst in der Stimme.
Libby legte auf. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Wem wollte sie etwas vormachen? Juliet würde sie nicht zu Hause willkommen heißen. Wenn sie gewusst hätte, was Libby vorhatte, würde sie es ihr sogar ausreden. Komm nicht zurück. Niemals. Das hatte Juliet zu ihr gesagt. Und Libby hatte geantwortet: Das werde ich auch nicht. Niemals. Und hatte dieses Versprechen zwanzig Jahre gehalten.
Doch was Teenager einander versprechen, sollte nicht fürs ganze Leben gelten, und es gab gute Gründe, nach Hause zu fahren. Marks Stimme drängte sich in ihre Phantasie. Du wirst malen. Wir schauen zusammen aufs Meer. Vielleicht ergründen wir das Familiengeheimnis der Winterbournes. Wie könnte ich das Cottage nicht kaufen? Unser Rückzugsort, einmal im Jahr. Dann hatte er ihr die Schlüssel gegeben, die nie zu benutzen sie geschworen hatte, und dazu die Besitzurkunde, die nie zu lesen sie geschworen hatte. Ab und an hatte er es erwähnt, wenn er nach Australien reiste, um Opale zu kaufen. Hatte nachgefragt, ob sie wirklich nicht mitkommen wolle. Doch sie war eisern geblieben. Wenn Juliet sie mit Mark gesehen hätte – mein Gott, wenn Juliet Mark erzählt hätte …
Libby schaute sich in ihrer Wohnung um. Sie war immer zu teuer gewesen, doch sie hatte sie behalten, weil Mark wollte, dass sie zentral wohnte. Sie konzentrierte sich auf die Schlafzimmertür, hielt die Luft an, war sich sicher, dass Mark jeden Augenblick herauskommen würde, groß und stark, nur in Boxershorts und blauem Morgenrock, das dunkle Haar fiele ihm lockig über die Ohren. Und er würde sie anlächeln und ihr Haar berühren, und er wäre Fleisch und Blut und Atem. Aber er würde nicht herauskommen. Nie wieder.
Читать дальше