Olivia Monti
Sterbewohl
Kriminalroman
Dieses ebook wurde erstellt bei
Inhaltsverzeichnis
Titel Olivia Monti Sterbewohl Kriminalroman Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Über die Autorin
Weitere Bücher der Autorin
Zugabe
Impressum neobooks
Von einem Tag auf den anderen gefiel mir mein Gesicht nicht mehr.
Im Spiegel blickte ich in ein Gesicht, in dem ich mein früheres Ich nicht mehr erkannte. Die Haare klebten platt am Schädel, ihnen fehlte jede Energie. Wangen und Stirn wirkten wie verschoben. Mein Gesicht war zusammengeschnurrt.
Mir wurde erschreckend klar: Ich sah nicht mehr gut aus. Ich war geschrumpft. Es fiel schwer, es zuzugeben: Ich war alt.
Warum wurde einem so plötzlich bewusst, dass man alt war? Ohne jegliche Vorbereitung stieß einen irgendeine Winzigkeit darauf. Ein klitzekleines Etwas. Es war ein jähes Erwachen und man machte sich Vorwürfe, wie man es so lange hatte ignorieren können. Es war ja nicht über Nacht passiert, das Altern. Es war ein stetiger, langwieriger Prozess, den man irgendwie lange ausgeblendet hatte. Und dann brach die Wahrheit ganz unversehens über einen herein. Wie ein Unwetter aus heiterem Himmel, das alles verwüstet.
Zu der Zeit, als ich mein Altersgesicht entdeckt hatte, erhielt ich Post vom Gesundheitsministerium. Ich war vor einem Monat fünfundsechzig Jahre alt geworden. Ich sah zwar plötzlich alt aus, war aber noch nicht so alt, dass der Staat mich jetzt schon dazu auffordern durfte, Sterbewohl zu schlucken. Es musste sich um ein Versehen handeln.
Nach der Erreichung des Rentenalters waren die meisten weiter berufstätig, schoben ihre Rente auf und trugen dazu bei, die Sozialsysteme zu entlasten. Der Staat wurde normalerweise erst ab fünfundsiebzig auf dich aufmerksam. Zu diesem Zeitpunkt bekamst du die Einladung in ein Hotel in schöner Lage, etwa am Meer. Dort musstest du an einem Seminar teilnehmen. Im Seminar ging es darum, wie man der Gesellschaft einen unschätzbaren Dienst erweisen konnte, indem man Sterbewohl schluckte und so das Rentensystem entlastete. Natürlich wurde nicht nur an deinen Gemeinsinn appelliert. Sie machten dir auch Angst, wie schrecklich Hilflosigkeit und Dahinsiechen im Alter für dich sein würden, wenn du es zu lange hinausschobst.
Fünfundsechzig … Ich fühlte mich noch nicht alt. Auch wenn ich dieses alte Gesicht an mir entdeckt hatte, das eigentlich nicht zu mir passte. Ich war zwar müde von den vielen Jahren Grundschulunterricht. Vielleicht war ich sogar zermürbt. Aber ich wusste ganz genau: Jetzt, wo ich pensioniert war, konnte ich den ganzen Frust hinter mir lassen und langsam, Schritt für Schritt, wieder zu einer besseren Form finden. Ich hatte schon ein Programm für mich aufgestellt, das aus sportlichen Betätigungen, gesundem Kochen, kulturellen Veranstaltungen, Reisen bestand … Ich hoffte, so körperlich und auch seelisch wieder hochzukommen. Mein Ziel war es, dieses natürliche Wohlbefinden zu erreichen, an das ich mich noch aus meiner Kindheit erinnern konnte, als ich mich noch ganz fühlte.
Warum luden sie mich bloß jetzt schon zu dem Sterbeseminar ein? War es kein Versehen, dann war der Staat vielleicht in derartigen finanziellen Nöten, dass er meine Pension nicht mehr zahlen konnte. Er versuchte also, die Menschen loszuwerden, sobald er ihnen eine Pension zahlen musste. Ich hatte gerade mal meine erste Pensionszahlung erhalten … Die hatte der Staat nicht vermeiden können; es wäre unpassend gewesen, wenn sie einen schon angeschrieben hätten, solange man noch im Arbeitsprozess war …
Vor fünf Jahren war ich aus meinem Elternhaus in ein Mietshaus umgezogen. Es gab im Haus vier Wohnungen. Hier lebten, mich eingeschlossen, vier ältere Personen. Wir hatten uns zusammengetan, um uns im Alter gegenseitig zu unterstützen. Es war eine Art Alters-WG. Wenn man keine Angehörigen hatte, die einen pflegten, und den Heimen nicht traute, kam so etwas durchaus infrage. Die Älteren starben weg, Jüngere kamen hinzu, und die Jüngeren halfen den Älteren.
Es hatte über ein Jahr gedauert, bis wir vier uns zusammenfanden.
Um zu sehen, ob es klappen würde, verabredete man sich mit unzähligen Leuten ähnlichen Alters, und dann stimmte dies nicht und das nicht und man sah sich die Nächsten an. Als ich schon ziemlich verzweifelt war und damit rechnete, ich müsse später doch noch in ein Heim, fand ich zuerst Anna. Wir waren Klassenkameradinnen gewesen, hatten uns aber nach dem Abitur aus den Augen verloren. Als ich sie zufällig nach Jahrzehnten im Konzert traf, erzählte ich ihr von meiner Suche nach Mitbewohnern für eine Alters-WG. In der Schule war sie mir nicht sonderlich sympathisch gewesen. Sie hatte sich ständig benachteiligt gefühlt, sich hier beschwert, dort beklagt. Sie bekam ihrer Meinung nach immer zu wenig, wurde schlechter behandelt als alle anderen. Die Jahre schienen sie aber verändert zu haben. Sie wirkte auf mich nun ruhig und ausgeglichen. Wie jemand, der etwas erreicht hat und es auch zu schätzen weiß. Zu ihrer Selbstsicherheit passte die stämmige Figur. Bis zu ihrem fünfundsechzigsten Lebensjahr hatte Anna in der Altenpflege gearbeitet. Auch das konnte von Vorteil sein, sagte ich mir insgeheim. Anna kannte einen gewissen Fred; Fred hatte ein kleines Vermögen, aber nie richtig gearbeitet. Fred wiederum hatte einen engen Freund, Max, den Sparkassenangestellten. Beide fand ich auf Anhieb sympathisch. Sie waren gebildet und nicht vorlaut. Der Einzige von uns, der verheiratet gewesen war, war Max. Seine Frau, Irmgard, war vor zehn Jahren an Leukämie gestorben. Ich glaube, er ist nie darüber hinweggekommen. Es haftet ihm eine Traurigkeit an, die sogar durchscheint, wenn er lächelt. Kinder schien niemand von uns zu haben. Ich hätte mir welche gewünscht, habe lange gehadert, dass ich keine hatte. Woran lag es? Ich habe einfach nicht den richtigen Partner gefunden. Ich kannte Männer, aber mit keinem wollte ich ein Kind haben. Ich habe immer auf den Mann gewartet, mit dem ich dann eines wollen würde. Der kam aber nie.
Altersmäßig sind wir nur wenige Jahre auseinander. Wir gehören zur gleichen Generation. Das ist hilfreich. Man hat mehr oder weniger dieselbe Geschichte, äußerlich gesehen.
Da lag also der Brief des Gesundheitsministeriums vor mir auf dem Küchentisch. Er hatte mir noch keinen tiefen Schrecken versetzt; wenn etwas Schlimmes passiert, sind meine Reaktionen manchmal verzögert. Ich merke das Schlimme erst viel später. Und so machte ich mir zunächst einmal eine Tasse Kaffee, um ihn nochmal in aller Ruhe durchzulesen. Ich musste ganz sichergehen, dass ich auch nichts missverstanden hatte.
Einladung ins Hotel Paradies auf Fehmarn. Paradies ... Am 20. April ... Es wäre dann noch frisch, noch nicht warm genug für Fehmarn, überlegte ich unsinnigerweise, bis mir klar wurde, der 20. April war schon in zwei Wochen! In zwei Wochen wäre ich auf Fehmarn beim Sterbeseminar und, wie so mancher hinter vorgehaltener Hand flüsterte, kam man von dort nicht mehr nach Hause zurück.
Читать дальше