Ich erschrak. „Weißt du, wie er hieß?“
„Jemand sagte so was wie Diedrichson .“ Anna runzelte die Stirn. „Ist schon rücksichtslos von einem verheirateten Familienvater, einfach so zu gehen …“
Ich sah hoch zum fünften Stock. Dort wohnten die Diedrichsons. Ich kannte die beiden vom Einkaufen im Supermarkt. Wir sprachen öfters miteinander. Herr Diedrichson wirkte seit einiger Zeit zunehmend verzweifelt. Ebenso war mir seine Frau die letzten Wochen sehr bedrückt vorgekommen. Und was neuerdings seltsam war: Wenn sie mich im Supermarkt sah, mied sie mich, ging schnell zur Kasse und verschwand. Zuvor hatten wir immer mindestens fünf Minuten miteinander gesprochen.
Anna wirkte auf einmal nachdenklich. „Vor ein paar Jahren wurde eine meiner Kolleginnen, Stella Mancrallo, arbeitslos. Ihre Stelle wurde wegrationalisiert. Das Altersheim hat damals ein Drittel der Belegschaft entlassen und wir, die Zurückgebliebenen, mussten dann deren Arbeit einfach miterledigen. Wie das ging, fragte keiner. Ab und zu traf ich Stella noch auf einen Kaffee in der Stadt. Sie musste sich gleich am ersten Tag ihrer Freistellung bei der Agentur für Arbeit melden. Die teilten sie dann für einen neuen Job ein. Den lehnte sie zuerst ab. Dann musste sie wieder und wieder dort erscheinen, und schließlich nahm sie ihn an. Sie putzt jetzt Toiletten im Schlosshotel. Als diplomierte Pflegerin! Wer weiß, wie sie Diedrichson zugesetzt haben, zu was sie ihn drängen wollten?“
„Ich verstehe das nicht. Das macht für mich keinen Sinn. Stella hätten sie doch anders vermitteln können. Pflegekräfte sind gesucht.“
Anna blies hörbar Luft durch die Nase. „Je schneller du jemanden vermittelst, desto mehr Bonuspunkte kriegst du, die dann ausgezahlt werden. Wenn der Beamte gerade keine Pflegestelle auf dem Tisch hat, nimmt er, was er gerade dort liegen hat, egal, was es ist. Der sucht nicht extra eine passende Stelle, selbst wenn es massenhaft passende Stellen gibt. Das ist zu viel Aufwand.“
Mir wurde ein wenig schlecht. „Ja, tut denn gar niemand mehr was für den anderen?“
„Wer weiß, was sich der Beamte in der Agentur für Arbeit dabei gedacht hat … Er hat vielleicht an den gigantischen Flachbildfernseher gedacht, den er anschaffen möchte, an die Reise nach Sylt mit seiner Freundin ...“
„Das kann nicht lange gut gehen.“
„Es geht gut“, erwiderte Anna laut. „Denkst du, jemand wie Stella rebelliert? Einen Aufstand müssen sie nur von den oberen Zehntausend fürchten. Revolutionen gehen praktisch nie von den unteren Schichten aus. Die sind doch viel zu sehr damit beschäftigt zu überleben. Die Französische Revolution – das ist mir noch aus dem Geschichtsunterricht in Erinnerung geblieben, weil’s mich so gewundert hat –, die haben wohlhabende Bürger losgetreten, die neidisch auf den Adel waren.“
Wir gingen zu uns nach Hause und ich dachte traurig darüber nach, dass unser Staat seine Bürger wie Dreck behandelte. Wir waren in vergangene Zeiten zurückgefallen. Zeiten, in denen es keine Bürger gab, sondern nur Untertanen, die das Leben der oberen Stände finanzieren mussten und dann noch zu Kanonenfutter wurden. Das war doch kein moderner Staat! Ein moderner Staat stand im Dienst der Bürger und nicht umgekehrt. Der moderne Staat leistete Dienste, er beschützte unsere Freiheit und sorgte für uns. Der moderne Staat verdiente sogar Geld für seine Bürger. Und wenn die Regierenden das schlecht machten, wurden sie einfach abgewählt ...
Bevor wir uns im Treppenhaus verabschiedeten, wollte mich Anna noch trösten: „Nimm es nicht so schwer, Nadja.“
Ich sah sie an und unterdrückte die Tränen.
„Menschen sind anpassungsfähig. Unser oberstes Prinzip war immer schon das Überleben. Wir sind ein Teil der Natur. Und das bedeutet, man muss manchmal mit den Wölfen heulen.“
Ich machte nur „Hm“, steckte den Schlüssel ins Schloss meiner Wohnungstür und wollte jetzt nicht genauer darüber nachdenken, was sie damit meinte.
Fred hatte uns wie versprochen zum Abendessen eingeladen. Sobald ich im Kreis der anderen war, fühlte ich mich fast behaglich. Nichts schien mehr so schlimm zu sein, wie es einem beim alleine vor sich hinbrüten vorkam.
Fred machte sein übliches Abendessen, Toast Hawaii, in der Mikrowelle. Dazu gab es einen kühlen, fruchtigen Weißwein. Sein Alternativessen war Räucherlachs mit Zwiebeln, Senfsoße und Toast. Zum Nachtisch servierte es meistens Vanilleeis mit Whiskey. Ab und zu drückte er eine Schokoladensoße aus der Tube darüber.
Als wir bereits am Tisch saßen, klingelte es. Ich war sehr überrascht: Marwa kam dazu, Freds Journalistenfreundin. Hatte Fred doch tatsächlich sein Versprechen wahr gemacht! Sie war hager, elegant gekleidet und hatte ein intelligentes Gesicht. Sie hatte sich sogar schon auf Fehmarn angemeldet und es war völlig problemlos gewesen. War man, wie Marwa, über 65 und meldete sich auf eigene Initiative zum Sterbeseminar an, durfte man das Hotel frei wählen. Solche Leute mochte der Staat ganz besonders. Sie wurden bevorzugt behandelt.
Im weiteren Verlauf der Unterhaltung erfuhren wir, für welche Zeitungen Marwa Artikel geschrieben hatte. Es waren zwar nicht viele, dafür aber wichtige Zeitungen. Seit die BP am Ruder war und die Meinungsfreiheit eingeschränkt hatte, schrieb Marwa nur noch über unverfängliche Themen wie Käferplagen, Waldsterben, Mülltrennung ... Wobei die unverfänglichen Themen mit der Zeit immer weniger wurden. Je unfreier der Staat wurde, desto mehr Bereiche wurden politisch.
Was uns alle sehr erstaunt hatte: Bevor Marwa sich zu Tisch setzte, ging sie mit einem kleinen Gerät durch Freds Wohnung. Wie sie uns hinterher erklärte, prüfte das Gerät alle erdenklichen Frequenzbereiche und zeigte bestimmte Anomalitäten an. Sie tastete sogar Freds Esstisch von unten ab. „In den meisten Privatwohnungen sind noch keine Minispione installiert. Das wäre einfach zu aufwendig“, war ihr Fazit.
Ich war sehr beeindruckt von Marwa. Bei Anna hingegen bemerkte ich ein kleines Grinsen. Sie hatte ihren Mundwinkel verzogen, während sie Marwa den Tisch abtasten sah. Vielleicht glaubte sie ihr nicht. Vielleicht glaubte sie auch nicht, dass der Staat seine Bürger abhörte.
Obwohl Freds Wohnung abhörfrei zu sein schien, traute Marwa der Sache doch nicht ganz. Waren die Abhörspione abgeschaltet, konnte ihr Gerät sie nicht erkennen. Nur in Funktion sendeten sie Frequenzen aus. Daher sprachen wir nicht über das Wichtigste: wie wir im Sterbehotel auf Fehmarn vorgehen wollten, um den Staat zu entlarven. Wir diskutierten allerdings darüber, wie wahrscheinlich es war, dass aus den Sterbehotels niemand mehr lebend zurückkam.
„Ihr werdet sehen, wir fahren hin, haben auf Staatskosten unseren Spaß im Hotel und sind nach den zwei Wochen wieder zu Hause“, flötete Anna.
Mir war nicht ganz klar, worauf sich ihre harmlose Sicht der Dinge stützte, und ich erwähnte unsere Nachbarn, die Lehmanns.
„Das mit den Lehmanns war wirklich ein bisschen seltsam“, gab nun auch Anna zu. „Aber kennst du sonst noch Leute, die nicht mehr zurückkamen?“
Ich musste zugeben, außer den Lehmanns niemanden zu kennen.
Anna bezweifelte dann auch, dass wir überall ausspioniert würden.
Auf belebten Straßen und öffentlichen Plätzen waren zwar Überwachungskameras angebracht. Die stammten aber noch aus der Zeit vor der Regierung der BP und hatten mit den terroristischen Anschlägen zu tun, die das Land erleiden musste.
Marwa beurteilte es pragmatisch: „Jeder Staat, der gegen die Interessen der Bürger arbeitet, zum Beispiel ihre wichtigsten Rechte einschränkt, muss seine Bürger überwachen, um sich am Ruder zu halten. Der Bürger eines übergriffigen Staates ist immer ein potenzieller Staatsfeind, den der Staat in Schach halten muss.“
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