Anna zuckte nur mit den Schultern. Und Max murmelte dunkel: „Zum Glück muss das meine Irmgard nicht mehr miterleben.“
Die Zeit raste. Ich fühlte mich schwer unter Druck. Ich wollte noch alles tun, was mir wichtig war. Eine letzte Reise kam nicht mehr infrage. Dafür war die Zeit zu knapp. Aber ich ging an die Plätze in meiner Stadt, die wichtige Erinnerungen für mich bargen. Erinnerungen, die mich immer noch glücklich machten. Ich suchte den kleinen Schulpark auf. Die im Kreis angepflanzten Büsche standen noch an Ort und Stelle. Sie boten jetzt sogar ein noch besseres Versteck. Dort hatte ich zum ersten Mal einen Jungen geküsst. Oder besser, er hatte mich geküsst. Er war viel attraktiver gewesen als ich, und es kam für mich daher völlig unerwartet. Ich ließ mich ins Gebüsch ziehen, ließ ihn machen, stellte mich einigermaßen tollpatschig an. Der schönste Moment war, als ich danach noch eine Weile alleine dortblieb. Ich freute mich unbändig und ich triumphierte. Wenn man jung ist und man bekommt etwas so Schönes, Unerwartetes geschenkt, denkt man, man hätte es verdient und es ginge von nun an so weiter. Meistens korrigiert das Leben einen solchen Übermut sehr schnell. Ich vermute, jeder hat so einen frühen Moment des Triumphes erlebt. Und vielleicht hätten sich noch weitere Momente an den einen schönen Moment gereiht, wenn man nicht triumphiert hätte. Wenn man nichts weiter erwartet hätte. Wenn man einfach nur den Augenblick genossen hätte, ohne Rücksicht auf ein Morgen. Aber wie soll man in dem Alter wissen, dass das Leben kein Freifahrtschein ist?
Ich besuchte eine Menge Orte, an denen ich hing: das alte Hallenbad, in dem wir Schwimmunterricht gehabt hatten. Die Stimmen hallten in dem hohen Gewölbe merkwürdig nach. Das Plätschern des Wassers klang besonders. Alle Geräusche wurden verstärkt und gleichzeitig runder im Ton. Schwimmen war jedes Mal ein Fest gewesen in dem alten Gebäude. Ich setzte mich nochmal in die Bibliothek, in der ich oft Romane gelesen hatte, atmete den Geruch der alten Bücher ein, der mit Kaffeeduft vermischt war. Ich versuchte, meine liebsten Freundinnen und Freunde zu besuchen oder wenigstens anzurufen. Ich brachte es aber nicht fertig, mit ihnen über das Sterbehotel zu reden. Ich wollte sie unbeschwert treffen, so als sei alles in Ordnung. Wenn jemand schwer krank ist, erzählt er das auch nicht allen und genießt es, von denen, die es nicht wissen, für gesund gehalten zu werden.
Innerhalb einer Woche hatte ich das Wichtigste erledigt. Anna, Max, Fred und Marwa taten nichts dergleichen. Anna ging ganz normal ihren täglichen Beschäftigungen nach, als wäre nichts anders. Sie war ja auch davon überzeugt, wir kämen von Fehmarn wieder zurück. Mir war wirklich schleierhaft, weshalb sie unserem Staat vertraute. Fred und Marwa verbrachten ihre Zeit mit Planungen. Sie kundschafteten im Internet die Insel aus und Marwa stellte eine Ausrüstung zusammen. Ihnen fehlte schlicht die Zeit, ihrem vergangenen Leben nachzutrauern. Vielleicht wollten sie es auch gar nicht. Fred hatte endlich wieder ein Projekt, das war für ihn wichtiger als alles andere. Und Marwa schätzte ich als nüchtern und pragmatisch ein. Sie konnte völlig in einer Aufgabe aufgehen, wobei für sie rationale Lösungen an erster Stelle standen und Gefühle warten mussten. Max tat nur eine Sache, die meinem Tun ein bisschen ähnelte. Er besuchte das Grab seiner Frau, was er vordem nicht getan hatte. Es hatte ihn zu sehr deprimiert. Ich konnte mir vorstellen, dass er am Grab Zwiesprache mit seiner Irmgard hielt. Vielleicht teilte er ihr mit, er käme bald nach.
Es waren noch drei Tage bis zu unserer Abfahrt. Das Gesundheitsamt hatte uns mitgeteilt, wir würden vom Bus vor unserer Haustüre abgeholt. Von einem komfortablen Kleinbus für gerade mal sechs Personen.
Am Abend trafen wir uns wieder bei Fred. Auch Marwa war da. Niemand störte es, dass es wieder Toast mit Ananas und Schinken aus der Mikrowelle gab. Sogar die Sauerkirsche in der Mitte der Ananas fehlte nicht.
Fred und Marwa kannten inzwischen die gesamte Insel. Und das Beruhigende war, es gab ganz in der Nähe des Hotels eine Fähre der Scandlines, die nach Dänemark übersetzte. Sie fuhr die 18 km zwischen Puttgarden und Rödby jede halbe Stunde hin und her, immer 15 und 45, auch die ganze Nacht durch. Im Notfall konnten wir sie vom Hotel aus über den Strand erreichen. Es wäre ein zwanzigminütiger Fußmarsch. Man musste sich allerdings ranhalten. Mein Herz klopfte, meine Stimmung verbesserte sich schlagartig. Wahrscheinlich schüttete mein Gehirn Glückshormone aus. Unser Schicksal war also noch nicht endgültig besiegelt. Und ich würde in dieser Nacht ruhig schlafen können.
Sicher, die Dänen wiesen Deutsche ohne Geld wieder aus. Aber von dort könnte man weiterziehen und weiter …
Nicht nur ich war erleichtert, auch die anderen hoben die Gläser. Nur Max lächelte nicht. Er trank einen Schluck, verzog keine Miene und starrte vor sich hin ins Leere.
„Was überlegst du, Max?“, fragte ich ihn.
Er erschrak. Dann antwortete er: „Ich musste nur eben an Diedrichson denken. Er wohnt gegenüber. Hat sich umgebracht. Wusstet ihr das?“
Fred und Marwa hatten noch nichts davon gehört.
„Sie haben ihn in den Tod getrieben. Da bin ich mir sicher“, sagte Max leise.
Anna machte „Pffft“ und verdrehte die Augen. „Der Mann war letztlich ganz alleine dafür verantwortlich, was er tat.“
Max zuckte nur mit den Schultern. „Diedrichson ist nicht der einzige Arbeitslose, der sich umgebracht hat. Ich weiß das von meinem Cousin“, erklärte er eindringlich.
„Woher will dein Cousin so was wissen?“, blaffte Anna.
„Mein Cousin ist Bestatter.“
Alle schwiegen. Es war ein unbequemes Schweigen. Ein Erschrecken und Verdachtschöpfen lag darin.
Max fuhr unbeirrt fort. „Mein Cousin bekommt von den Hinterbliebenen meist die Geschichte der Verstorbenen zu hören. Und bei den Arbeitslosen ist die Selbstmordrate sprungartig angestiegen. Schon seit Jahren.“
„Und was soll das nun heißen?“, fragte Anna verunsichert.
„Man hat sie so lange drangsaliert, bis sie sich das Leben genommen haben. Und ich spreche jetzt nicht nur von den Behörden. In den letzten Jahren ist doch unsere gesamte Gesellschaft darauf getrimmt worden, Arbeitslose zu verachten. Fast jeder hält sie für Schmarotzer. Selbst in Fernsehserien werden sie vorgeführt.“ Max senkte den Blick, guckte auf seinem Teller herum, sah wieder auf. „Genau wie wir Alten. Du schämst dich mittlerweile, alt zu sein. Du verschweigst, dass du nicht mehr arbeitest. Denn darum geht es. Sobald du kein Geld mehr bringst, bist du ein Parasit. Du liegst der Allgemeinheit auf der Tasche. Andere müssen für dich arbeiten, damit du deine Rente bekommst oder deine Arbeitslosenunterstützung. Sie machen es wie mit Hennen, die keine Eier mehr legen, die wandern in den Suppentopf.“
Niemand machte mehr eine Bemerkung. Wir wussten alle, so war es. Auch Anna konnte sich dem nicht entziehen. Sie verzog ihr Gesicht zu einer Grimasse.
Jedem von uns war es schon mindestens ein Mal passiert, dass uns eine wildfremde Person fragte, was wir davon hielten, rechtzeitig zu gehen , bevor wir der Gesellschaft zur Last fielen. Das konnte beim Frisör sein, da fragte einen plötzlich die Kundin, die neben einem saß, danach. Oder im Bus, da fragte einen die Sitznachbarin aus heiterem Himmel, ob man später, wenn man Rente bezog, auch ans freiwillige Sterben dachte. Dass Leute auch mal indiskrete Fragen stellten, war nichts Neues. Ich wurde etwa öfters gefragt, wie viel ich als Grundschullehrerin verdiente. Wahrscheinlich fragten mich die Leute danach, weil sie hören wollten, wie wenig ich verdiente, damit sie mit ihrem eigenen Verdienst zufriedener sein konnten. Wenn es um die Frage nach dem freiwilligen aus dem Leben Scheiden ging, hatte ich allerdings den Verdacht, der Staat bezahlte Leute, die einem diese unangenehme Frage stellten, um einen unter Druck zu setzen.
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