Im zweiten Absatz stand, man hatte in den nächsten Tagen für alle Fälle einen Sachwalter zu benennen und dem örtlichen Gesundheitsamt mitzuteilen. Der musste sich gegebenenfalls um die Auflösung des Haushalts kümmern. Es stand nicht im Brief, dass er eventuell auch die Beerdigung organisieren musste. Das verstand sich aber von selbst. Der Staat wollte den Leuten nicht zu viel Angst einjagen. Es sollte so aussehen, als wäre die Veranstaltung freiwillig, als könnte man sich im Hotel die Vorteile des freiwilligen Todes anhören, ohne ihn wählen zu müssen, als dürfte man jederzeit wieder nach Hause zurückkehren, wenn man das wollte. Aber ich hatte, wie so einige, den starken Verdacht, der Staat gaukelte den Bürgern bloß vor, sie hätten eine Wahl.
Dass dies kein freies Land mehr war, wurde nur wenige Monate nach dem Wahlsieg der BP, die sich harmlos Bürgerpartei nannte, klar. Die BP hatte mit einer Zweidrittelmehrheit gewonnen, in wenigen Monaten Grundgesetz und Wahlrecht geändert und sich so ein Fortregieren ermöglicht in einer Demokratie, die nur noch eine Scheindemokratie war. Das war jetzt zehn Jahre her. Damals hatte es eine Weltwirtschaftskrise gegeben, ausgelöst durch die gigantischen privaten und staatlichen Schuldenberge. Der Euro war zerfallen, ein Brot hatte irgendwann eine Million Euro gekostet, und die BP tat damals so, als könne man mit einfachen Rezepten aus der Krise kommen. Unsere Nachbarländer hatten so viel mit sich selbst zu tun, dass sie kaum merkten, wie wir in einen Staat schlitterten, in dem der Bürger nur noch einen Dreck zählte. Es gab einen Währungsschnitt, die D-Mark wurde wieder eingeführt, der Staat brachte alle möglichen Konjunkturprogramme mit gedrucktem Geld auf den Weg. Es ging langsam besser, und so beklagte niemand den Verlust der Freiheit. Bald konnte man wieder alles kaufen, das Verhältnis zwischen Verdienst und den Preisen von Waren stimmte wieder, und nur darauf schien es anzukommen. Was vor dem wirtschaftlichen Zusammenbruch ein Problem war, und zwar Renten und Pensionen auszuzahlen, wurde allerdings auch im BP-Staat bald wieder zum Problem. In der klassischen Demokratie schien es dafür keine gute Lösung zu geben, die Renten- und Pensionskassen zahlten immer weniger und dann fast nichts mehr. In unserem neuen System gab es eine Lösung: Der Staat drängte einen, das Zeitliche zu segnen.
Im Fernsehen betonten sie, wie schön es war, rechtzeitig Abschied zu nehmen, bevor Demenz und Inkontinenz einsetzten, bevor wir unsere Angehörigen nicht mehr erkannten und ihnen und der Gemeinschaft unsere Hilflosigkeit und unser langsames Dahinsiechen aufbürdeten. Es gab sogar Filme über die Sterbehotels, in denen man die schönsten, weil letzten Tage seines Lebens so intensiv verbrachte wie noch keinen anderen Tag im Leben und sich sogar noch verliebte, um dann gemeinsam in den Tod zu gehen. Und die Bürger wurden in Seminaren, Vorträgen und Coachingveranstaltungen darauf getrimmt, ab einem bestimmten Alter gemeinnützig in den Tod zu gehen.
Solange das mit achtzig der Fall war, hatten nur wenige etwas dagegen. Insbesondere wenn man jung war, dachte man nicht so weit. Und da das frühzeitige Sterben angeblich freiwillig war, ließen sich tatsächlich viele davon überzeugen, dass es in der Tat angenehmer war, schnell zu gehen, solange man noch in Form war, statt jahrelang hilflos dahinzusiechen und selbst für die intimsten Verrichtungen Hilfe zu benötigen. Die Generation, die ihre Eltern jahrelang gepflegt hatte und nicht selbst so enden wollte, ließ sich am leichtesten gewinnen.
Der Staat gab sich ungemein Mühe, es uns schmackhaft zu machen, es hundertfach zu erklären und zu verbrämen. Was dann tatsächlich dazu führte, dass das geregelte Sterben zunächst weithin akzeptiert wurde. Besonders perfide war, dass der Staat sich dabei strikt von den Euthanasieprogrammen des Dritten Reichs abgrenzte. Damals hatte man lebensunwertes Leben vernichten wollen. Man tötete beispielsweise alte Menschen, wenn sie schwer erkrankten, oder verweigerte ihnen zumindest die Behandlung. Unwertes Leben gab es im neuen Staat natürlich nicht. Das frühzeitige Sterben stand allein im Zeichen des Gemeinwohls. Der Staat tat viel für den Bürger und der Bürger gab sich Mühe, etwas zurückzugeben, beispielsweise indem er starb, bevor er die Kassen und so die Allgemeinheit zu sehr belastete.
Seit sich die Altersgrenze aber immer weiter nach unten verschob, formierte sich Widerstand, wenn auch noch nicht offen.
Ich sah noch einmal auf den Brief auf meinem Küchentisch. Schlagartig wurde mir klar, ich hatte höchstens noch vier Wochen zu leben. In zwei Wochen musste ich auf Fehmarn sein und der Sterbeaufenthalt dauerte ebenfalls zwei Wochen. Erst jetzt erschrak ich bis ins Mark. Dass ich verzögert reagierte, geschah vielleicht zu meinem eigenen Schutz. Ein wenig hatte ich mich schon an die Hiobsbotschaft gewöhnen können, bis sie mich vollumfänglich traf.
Noch vier Wochen zu leben … und ich war noch gar nicht alt, wollte sogar gerade ein neues Leben anfangen, ein angenehmeres Leben ohne den ständigen Ärger in der Schule.
Eine Zeit lang war ich so unglücklich, dass ich einfach nur weinte. Mein Todesurteil schien mir unabänderlich. Dann kam mir der Gedanke, zu Anna rüberzugehen.
Ich klingelte nebenan, den Brief in der Hand. Anna öffnete. Ich war so erleichtert, dass sie da war, dass ich erneut in Tränen ausbrach.
Obwohl ich kaum mehr aus den Augen gucken konnte, bemerkte ich, dass mit Anna etwas nicht stimmte. Sie wirkte irgendwie hart, abweisend. Was war nur mit ihr los?
Sie bat mich stumm herein.
Auf dem Couchtisch lagen ein Blatt Papier und ein Couvert; ich erkannte von Weitem den Briefkopf des Gesundheitsministeriums.
„Du auch?“, brachte ich heraus.
Als sie begriff, dass ich denselben Brief bekommen hatte, entspannte sie sich ein wenig. „Ich habe gedacht, ich wäre die Einzige … Schon seit Stunden überlege ich, warum sie mich umbringen wollen. Ich bin doch erst siebenundsechzig. Halten die mich für eine Gegnerin? Meinen sie, ich wäre gegen den Staat? Gegen die Partei?“ All ihre Kräfte versagten, sie ließ sich auf die Couch fallen, die unter ihrem Gewicht wüst quietschte.
Ich fühlte mich ein klein wenig besser, weil ich mir sagte, ich muss jetzt Haltung bewahren, um sie zu trösten: „Der Staat ist womöglich wieder bankrott. Gelddrucken hat seine Grenzen. Ungestraft geht das nicht lange. Ich habe denselben Brief bekommen, obwohl ich immer vorsichtig war: Ich habe in der Öffentlichkeit nie was gegen den Staat gesagt. Meine Eltern haben mir schon in meiner Jugend eingebläut, wohin das führen kann. Die mussten noch das Dritte Reich miterleben.“
Anna sperrte die Augen weit auf, bog ihren Oberkörper langsam nach vorne: „Wir sollten Fred und Max fragen. Wenn die auch Briefe bekommen haben, dann könnte ein Bankrott wirklich der Grund sein.“ Sie sank wieder zurück in die Polster: „Oder alle von uns haben einen Brief bekommen, weil sie unser Haus als konspiratives Nest ansehen ...“
Ich kochte Anna zuerst einen Kamillentee, damit sie sich beruhigte. Dann gingen wir mit unseren Briefen ins Treppenhaus und klingelten bei den anderen.
Max hatte den Brief ebenfalls bekommen. Auch ihn schickten sie nach Fehmarn.
Fred öffnete in Tränen aufgelöst. Ich hatte ihn noch nie weinen sehen. „Sie schicken mich ins Hotel Tod. Und ich weiß ganz genau, warum“, eröffnete er uns noch auf der Türschwelle.
Fred wusste genau, warum? Er war achtundsechzig, sah aber aus wie achtundfünfzig. Wahrscheinlich, weil er nie gearbeitet hat.
„Weil ich nie gearbeitet habe“, echote er meinen Gedanken mit einem tiefen Schluchzer. „Jetzt zahlen sie es mir heim. Sie halten mich für wertlos. Ich bin für sie ein Parasit, den sie vernichten wollen …“
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