Enis‘ Körper wurde in einem Metallsarg abtransportiert. Auf dem Gehweg blieben nur ein paar verwaschene braune Flecke zurück. Es war fast so, als sei nie etwas geschehen. Dass es aber doch geschehen war, hatte sich dann bis zum Abend im ganzen Haus herumgesprochen.
Priscilla klingelte um sieben Sturm an meiner Tür. „Weißt du schon …?“ Ja, ich wusste schon … leider, und die Bilder gingen mir einfach nicht mehr aus dem Kopf.
„Die Rauhaar sagt, er hat sich von seiner Dachterrasse runtergestürzt. Selbstmord.“
„Aber warum?“ Ich bat Priscilla herein.
Sie ließ sich auf mein Sofa fallen. Ich dachte nicht, was ich sonst gewöhnlich dachte, dass man nachher einen Haufen Hundehaare auf dem dunklen Samt sehen würde. Ich vergaß auch, Priscilla etwas zu trinken anzubieten. Ich vergaß einfach alles. Ich war ziemlich durcheinander.
„Im Treppenhaus hab ich mit Zimmermann geredet. Er war völlig fertig, hatte sogar Tränen in den Augen. Er meinte, der Tod von Enis fiele auf das Haus zurück. Auf uns alle. Niemand habe wahrgenommen, wie unglücklich Enis war, und fast jeder hier drinnen hätte noch ein Leid hinzugefügt. Jeder von uns müsse sich fragen, ob er es nicht hätte verhindern können.“
Ich biss mir auf die Lippe und schwieg. Ich brachte nichts heraus. Ich spürte nur einen Klos im Hals, der immer härter wurde, schon schmerzte. Dann heulte ich los.
Priscilla legte einen Arm um mich.
„Entschuldige“, stammelte ich nur.
„Ruhig. Ganz ruhig. Sogar Zimmermann sind die Tränen gekommen. Und ich wein vielleicht später noch. Ich muss mir nur vorstellen, Boris und Churchill wäre so was passiert. Von der Terrasse runtergefallen ...“ So hießen Priscillas Chihuahuas, Boris war eine Abkürzung für Boris Johnson.
Mein Geheul stoppte. Ich konnte mich gerade noch beherrschen, nicht in irres Gelächter auszubrechen. Ich war mit den Nerven fertig.
Als Priscilla wieder fort war, wünschte ich mir einen Moment lang auch ein Tier in meiner Wohnung. Vielleicht einen Haushasen. Hasen sind Vegetarier und stinken fast nicht. Es hätte jetzt etwas ungemein Beruhigendes gehabt, wenn so ein Wesen hier herumwuselte, das Wärme ausstrahlt, von nichts Schlimmem weiß, unschuldig in den Tag hinein frisst, schläft, lebt.
Bis tief in die Nacht hinein hielten mich Grübeleien wach. Sie hatten mit meiner Arbeit über das Gedächtnis von Orten und Gegenständen zu tun. Es gibt da eine Annahme: Ein Ort, also auch ein Haus wie das unsere, speichert alles, was in ihm geschieht. Nicht nur jede Handlung, auch jedes Gespräch, jeden Gedanken, jedes Gefühl. Und es gibt abenteuerliche Theorien von Physikern, in was für einem physikalischen Feld alle diese Informationen verschlüsselt werden. Durchaus seriöse Hypothesen, vorgebracht von Forschern wie dem berühmten Einsteinschüler David Bohm.
Jeder von uns kann mehr oder weniger das Gespeicherte spüren. Wir haben alle diese Fähigkeit. Heftige Gefühle und Wiederholungen prägen sich einem Ort besonders ein und sind auch von uns stärker wahrnehmbar. Ist an einem Ort etwas Schreckliches geschehen, so kann es gut sein, dass wir uns an dem Ort bedrückt fühlen. Manche haben nur ein ganz undeutliches, mulmiges Gefühl. Ganz wenige sehen sogar im Geist vor sich, was konkret an diesem Ort passierte.
An dem Abend fragte ich mich, ob wir vielleicht in einem Haus wohnten, das die Einwohner bedrückt, und einen von ihnen derart, dass er sich aus dem fünften Stock gestürzt hat.
Im Haus wohnten lauter Singles in kleinen Wohnungen. Ein Teil junge Leute, die in die Berufswelt mussten und Ängste ausstanden. Ein anderer Teil ältere Menschen, die sich nichts Besseres leisten konnten und einsam waren. Das heißt, das Thema der Einsamkeit wiederholte sich Tag für Tag und auch die Ängste, es irgendwo in dieser Welt alleine schaffen zu müssen, wiederholten sich. Diese Gefühle sind sehr aufdringlich. Die Wände saugen sich voll damit und strahlen eine zähe Bedrückung ab, die womöglich manche, mir fiel Marina ein, aggressiv machte und in einem Fall vielleicht sogar einen jungen Menschen in den Tod gestürzt hatte.
Am Samstagmorgen fühlte ich mich stark betäubt. Um doch noch schlafen zu können, hatte ich in der Nacht viel zu spät noch eine Schlaftablette geschluckt.
Ich hatte mich an dem Tag zum Wäschewaschen in einer der zwei Waschküchen im Keller eingetragen. Eigentlich war ich froh, dass ich gleich etwas zu tun hatte, etwas Alltägliches. Alltagsverrichtungen beruhigen; sie machen einem vor, das Leben geht weiter. Sogar nach der schlimmsten Zäsur. Enis‘ Tod war eine brutale Zäsur. Es fiel mir dennoch sehr schwer, gleich wieder zur Tagesordnung überzugehen, so zu tun, als sei nichts passiert. Enis stand mir immer wieder vor Augen. Wenn ich nicht gerade seinen leblosen Körper vor mir sah, musste ich an den lebendigen Enis denken, dessen Weg ich ab und zu im Treppenhaus gekreuzt und der mich immer höflich lächelnd gegrüßt hatte. Er war ein schöner junger Mann gewesen. Was Matt Reynolds in Blond war, war Enis El Agha in Schwarz. Enis war lediglich weniger trainiert als Matt, der im Ballett der Oper tanzte. Und Enis hatte nicht Matts gesunden Teint; er wirkte eher blass und seine Gesichtshaut ein bisschen teigig, so als vertrage er unser nördliches Klima nicht. Enis wollte nicht groß Kontakte im Haus, das war allen aufgefallen. Ich überlegte, an was allem er gelitten haben konnte. Zieht man sich zurück, hat man eventuell eine Depression. Hatte er die Gräuel des Bürgerkriegs erlebt? Wirkten die unauslöschlich nach? War ihm in einem neuen Land alles zu fremd? Hatten seine Eltern für ihn entschieden, dass er sich in dem ihm völlig fremden Land eine Existenz aufbauen sollte? Glaubte er in einer Art Wahn oder Verzweiflung, sich dem nur durch Selbstmord entziehen zu können? War es das?
Während ich noch über Enis‘ Tod nachgrübelte, hörte ich Marco Bentivoglio und Marina Dunst in der Waschküche nebenan reden. Wahrscheinlich war es Bentivoglios Waschtag und Marina fragte ihn, ob sie auch waschen konnte. Sie tat das regelmäßig und bat Bentivoglio auch sonst ständig um Gefallen. Bentivoglio sagte nie Nein. Er galt allgemein als hilfsbereit. Vielleicht lehnte er auch nur aus Schwäche kein Ansinnen ab ...
Ich war gerade dabei, die Maschine mit Schmutzwäsche zu füllen, stellte sie aber nicht gleich an, sondern horchte, weil die Stimmen nebenan so alarmierend laut wurden.
„Du spinnst!“, rief Marina. „In unserem Haus wird doch niemand umgebracht!“
„Wenn es ein IS-Mann war, dann haben die ihn vom Dach gestürzt und es wie Selbstmord aussehen lassen.“
Ich hörte etwas wie „Pffffft“ und stellte mir vor, wie Marina Dunst Marco Bentivoglio den Vogel zeigte. „Wer soll das gewesen sein?“, blaffte Marina wieder so laut, dass es geradezu herüberschallte.
„Na, die Geheimdienste, ein westlicher Geheimdienst.“ Bentivoglios Stimme wurde leiser und klang zittrig. „Haben ihn aufgespürt und neutralisiert.“
Marina sprach in einem Schwall, als hätte sie zuerst Luft geholt, und schrie dann los: „So ein Quatsch. Der Staat hier ist doch viel zu zahm. Terroristen kommen hier nicht hinter Schloss und Riegel … die kriegen Bauspardarlehen …“
Den Rest konnte ich nicht verstehen, weil sie auf einmal verschwörerisch leise sprach. Dann wieder laut: „Für mich ist der Fall abgeschlossen. Ich will nichts mehr davon wissen. Enis‘ Tod geht mir so was von am Arsch vorbei.“
Irgendetwas rumpelte, ich hörte Türenschlagen, Schritte. Zum Glück war meine Waschküchentür zu. Ich wartete reglos, wagte kaum zu atmen.
Ich habe die Maschine erst angeschaltet, als alles ganz still war und nur noch die Tauben vor dem Kellerfenster gurrten. Die pickten dort die Krümel auf, die von Frau Mooskops Fenstersims herunterfielen. Die Mooskop fütterte bei sich den ganzen Tag die Tauben.
Читать дальше