Am Abend fühlte ich mich wie ein jämmerliches, klägliches Häufchen Elend.
Auch wenn ich das Roman gegenüber nicht erwähnte, war ich mir sicher, dass er sich meiner Frustration bewusst war. Nach meinem Aufenthalt in Spline nahm er mich wortlos in die Arme und teleportierte mich heim, wo er mich mit den Worten ‚Versuche deine Konzentration in den Griff zu bekommen‘ verließ. Die Frage war: Hatten meine gescheiterten Versuche wirklich etwas mit meiner Konzentration zu tun oder hatte ich es einfach nicht mehr im Griff, wohin sich meine Energie ausbreitete? Wie sollte ich mich auf ein Ziel konzentrieren, welches sich bewegte? Es wäre einfacher, würde meine Energie sich bewusst dahin bewegen, wo sie gebraucht wurde.
Blöderweise tat sie das nicht.
Fluchend schälte ich mich aus meinen Klamotten, stieg in eine heiße Wanne, weichte mich solange ein, bis meine Finger und Fußzehen komplett verschrumpelt waren, trocknete mich vor mich hin murmelnd ab, aß rasch etwas zum Abendbrot, sah ein wenig fern und fiel schließlich todmüde und desillusioniert ins Bett. Ich war nicht mehr annähernd so gut in Form wie vor meinem Unfall. Das war eine Tatsache, der ich ins Auge sehen musste. Aber war es auch eine Tatsache, die sich durch Übung wieder wettmachen ließ?
Ich vertraute darauf, dass Steward mit seiner Strategie richtig lag. Vielleicht sollte ich anfangen die ganze Sache nicht nur als hartes Training anzusehen, sondern das Unvermeidliche als Ansporn nehmen. Irgendwann würde Alans Rudel nämlich wieder Maßnahmen ergreifen, um mein Ableben zu beschleunigen. Auch wenn die sich vorübergehend zurückhielten. Hätte ich bis dahin meine Kräfte nicht im Griff, konnte das verflucht brenzlig werden. Und das war keine Anspielung auf meine zurzeit eher verkümmerten Fähigkeiten!
Die nächsten Tage ließ Roman mich lediglich an meiner Verteidigung arbeiten. Dass er dabei nicht anwesend sein musste, hatte einen großen Vorteil für mich. Ich konnte nämlich immer wieder mal probieren, ob ich nicht doch an meiner Treffsicherheit feilen könnte, ohne dass ich dabei einen Zuschauer hatte. Doch egal welchen Punkt ich in der Halle auch anvisierte, ich zielte meilenweit daneben.
Vielleicht war mein innerer Kompass im Eimer?
Ein Ziel derart weitläufig zu verfehlen, war nämlich für meine Begriffe schlichtweg unmöglich. Es war fast so, als ob man nach links abbiegen wollte, einen die Beine aber nach rechts trugen. Warum klappte dann aber meine Hand-Fuß-Koordination? Ich verstand es nicht.
Während ich trainierte und wegen meines Versagens kurz vor der Kapitulation stand, schweiften meine Gedanken zu den verschwundenen Personen ab, deren Anzahl von Tag zu Tag stieg. Ob ich Roman oder Steward darauf ansprechen sollte? Schließlich war ich mir sicher, eine dieser Entführungen beobachtet zu haben. Nun ... sonderlich viel hatte ich nicht gesehen. Aber genau das konnte schließlich ein Hinweis sein.
Oder nicht?
Eine kurze Pause einlegend, leerte ich meine Flasche und verschlang drei mitgebrachte Brötchen, die meinen Hunger nur wenig entgegenzusetzen hatten. Die nächsten Tage sollte ich Roman vielleicht einfach bitten meinen Kühlschrank herzubringen. Mein Magen knurrte immer noch das Klagelied der Heiligen Johanna, als ich schon längst wieder trainierte und Roman sich zu mir gesellte.
Eine weitere Woche verging, und ich näherte mich meinem absoluten Tiefpunkt, obwohl ich wenigstens hin und wieder einen Treffer verzeichnete. Dass ich nicht in Topform war, konnte ich nicht leugnen. Es von Roman jeden Tag auf die Nase gebunden zu bekommen, machte die Situation für mich nicht einfacher. Sein letzter Kommentar brachte das Fass endgültig zum Überlaufen. Wütend schleuderte ich ihm nicht nur einen oder zwei Sätze entgegen, die wenig schmeichelhaft waren, sondern auch einen derart von Wut und Rage beeinflussten Energieblitz, dass Roman mehrere Meter durch die Luft flog und benommen auf seinem Allerwertesten landete. Mir war klar, dass ich ihn nicht außer Gefecht gesetzt hatte.
Aber mir ging es verdammt nochmal besser.
Schnurstracks ging ich auf den Ausgang zu, stemmte mich gegen dessen Eisentür und trat ins Freie. Nur um mit ungläubigem Erstaunen festzustellen, dass sich der riesige Übungsplatz der Pir als Schuppen tarnte, der höchsten vier Quadratmeter groß war und sich in unmittelbarer Nähe von Alans Anwesen befand.
Fast hätte ich hysterisch gelacht.
Ob der allmächtige, allwissende und von sich überzeugte Alan wusste, dass die Pir seine Nachbarn waren? Vermutlich nicht.
Vor mich hin schimpfend stapfte ich drauf los Richtung Stadt. Immer am äußersten Rand der Straße, damit möglicherweise vorbeifahrende Autos mich nicht umfuhren. Sofern sie das Navigationsleitsystem der Straße nutzten. Was die meisten taten. Allmählich lief ich schneller, bis ich schlussendlich rannte. Weil ich auf keinem Fall einem aus Alans Rudel begegnen wollte. Außerdem trug ich wie immer keine Jacke und es war doch ziemlich kalt.
Äh…, eigentlich sogar saukalt.
Besonders in Anbetracht des Umstandes, dass ich während des Trainings wie immer geschwitzt hatte. Wenigstens waren die Straßen schnee- und eisfrei, auch wenn der Rest der Landschaft noch immer in pudriges Weiß gehüllt war. Es hätte wahrscheinlich prima zu meiner miesen Stimmung gepasst, wenn es mich der Länge nach hingeschmissen hätte.
Gott, war ich sauer!
Nur langsam drosselte ich mein Tempo, als ich endlich in der Stadt ankam. Zu blöd, dass ich kein Geld dabei hatte. Und auch keine EC- oder Kreditkarte. Mir war nach einem Frusteinkauf. Außerdem einem riesigen Eisbecher oder gleich mehreren.
Und neuen Klamotten.
Und Alkohol.
Dass es bereits dunkel war, störte mich nicht. Solange mir nicht irgendwelche unsichtbaren Monster auflauerten, die arglose Leute entführten, konnte mich bei meiner jetzigen Laune noch nicht mal ein Bulldozer aufhalten. Auf meinem Weg in die Stadt hatte ich eine ordentliche Menge Energie aus den umliegenden Leitungen gezogen. Für diejenigen, die daher ihren Strom bezogen, bedeutete das aber nicht mehr als ein kurzes Flackern des Lichtes.
Inzwischen lief ich nicht mehr sehr schnell. Viel eher konnte man mein Laufen als harmloses Dahinschwandronieren bezeichnen. Ich hoffte, dass mich die kalte, klare Luft, die meinen Atem in Form von kleinen, weißen Wölkchen abzeichnete, etwas beruhigte.
Tief ein- und ausatmend, meine Hände in den Hosentaschen vergraben, schlenderte ich durch die Innenstadt, in der auffallend wenige Leute unterwegs waren. Entweder, weil die sich nicht den Arsch abfrieren wollten oder weil sie Angst hatten. Meinen Kopf in der eiskalten Februarluft auskühlend und in Selbstmitleid schwelgend, war ich derart überrascht, plötzlich an der Hauswand zu kleben, dass mein Herz vor Schreck aussetzte. Zähne schabten über meinen Hals und ein tiefes Knurren ließ vermuten, dass der Vampir, der hinter mir stand, alles andere als gut gelaunt war.
Ganz im Gegenteil.
Vermutlich hatte ihn mein unerwarteter Angriff ziemlich gereizt. Verfluchter Kackmist, ich konnte Roman nicht einordnen! „Verlass. Nie wieder. Das Training.“ War er wirklich wütend oder wollte er mir nur aus Spaß ein wenig Angst einjagen?
Denn die hatte ich!
Ich war wie gelähmt, als er mich noch stärker gegen die Wand presste. „Ich weiß, dass du die Energie benutzen kannst. Warum tust du es nicht? Wehr dich.“ Nur ein Flüstern. Kälter als die Luft um mich herum. Ganz im Gegensatz zu Romans Körper, der an meinem Rücken brannte. Seine Hände griffen so fest zu, dass ich dachte, meine Handgelenke würden jeden Moment brechen. Aber ich war wie erstarrt; unfähig etwas zu tun. Meine Angst blockierte alles, was ich in den letzten Tagen so hart erarbeitet hatte.
Selbst meine Stimme verweigerte mir den Dienst.
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