Larson winkte ab. »Es ist nicht, was du denkst. Ich habe deine Stasiskammer von dem Zentralsystem getrennt und sie mit einem autonomen Timer gekoppelt. Es ist nicht ohne Risiko, aber wenn alles wie geplant läuft, dann wachst du kurz vor unserer Ankunft auf.«
»Was erwartest du dir davon?«
Über Larson Gesicht blitzte ein tiefgründiges Lächeln. »Ich möchte, dass die Leute als erstes deine Stimme hören, wenn sie aufwachen und ihre Kammern verlassen.«
Luca rollte mit den Augen. »Okay, ich frage besser erst gar nicht, wie hoch das Risiko ist. Aber erwarte keine ausgefeilte Rede von mir.«
Larson grinste sie an, wurde aber sofort wieder ernst. »Sollte etwas schief gehen, autorisiere ich dich hiermit, nach eigenem Ermessen zu handeln«, sagte er zu ihr in einem fast unhörbaren Flüstern. Misstrauisch schaute er zu den anderen Ratsmitgliedern hinüber. »Behalte es für dich!«
Ein dumpfer Schlag ging durch die Hülle des Raumschiffs und unterbrach ihr Gespräch. Die Andockklammern des Mutterschiffs legten sich um den Rumpf und zogen es zu sich heran. Die durchdringende Stimme von General Hare forderte alle Passagiere auf, sich zu den Stasiskammern zu begeben.
»Es wird Zeit«, sagte Larson zum Abschied. »Wir sehen uns am anderen Ende des Universums.«
Hoffentlich , fügte Luca in Gedanken hinzu. Sie legte die Fingerspitzen zu einem militärischen Gruß an die Schläfe, stieß sich von der Wand ab und schwebte zu ihrer Stasiskammer hinüber. Die Kapsel hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit einem ausgepolsterten Sarg. Nur durch ein kleines Sichtfenster im Deckel drang etwas Licht hinein.
Luca fasste nach dem seitlichen Griff und zog daran. Automatisch schwang die Tür vor ihr auf. Sie schwebte hinein und drückte ihren Körper in die Polsterung. Versteckte Sensoren erfassten Lucas Position und blähten die umgebenden Kissen auf, bis sie vollständig fixiert war. Selbsttätig schloss sich der Deckel der Kammer.
Durch die Sichtscheibe sah sie, wie Larson ihr gegenüber auf seine Kapsel zuschwebte und sie öffnete. Er grüßte sie ein letztes Mal und bewegte seine Lippen. Die Worte konnten die Abdeckung nicht durchdringen.
Wie wird es sich an…
…fühlen .
Luca schreckte hoch. Übergangslos war das Licht außerhalb ihrer Kapsel erloschen. Nur im Inneren herrschte noch eine spärliche Notbeleuchtung. Ein Notfall , schoss ihr ein Gedanke durch den Kopf. Mit aller Kraft drückte sie die Tür der Stasiskammer auf. Kühle Luft schlug ihr entgegen. Kein Geräusch außer dem stetigen Wummern des Antriebs war zu hören. Sie stieß sich ab und sprang in der geringen Schwerkraft zu der Kapsel hinüber, neben der eben noch Larson geschwebt hatte.
Die Kammer war verschlossen. Im fahlen Schein sah sie durch die Sichtscheibe auf das erstarrte Gesicht des Ratsvorsitzenden. Es war vorbei, sie waren am Ziel ihrer Reise angekommen.
Kapitel 2: Lotka-Volterra
Auszug aus dem Kompendium des Wissens:
Der langfristige Mittelwert einer Räuber- bzw. Beutepopulation hängt nur von ihren Wachstumsraten, nicht aber von der Ausgangsgröße ab. Das Auftreten einer sehr kleinen Population einer invasiven Spezies hoher Reproduktionsrate, kann dauerhaft das Gleichgewicht eines bestehenden Ökosystems zerstören.
Fluchend stapfte Jim durch das verschlammte Wasser der Tiefebene. Bei jedem Schritt schmatzten seine Stiefel in dem Morast. Ein beständiger Nieselregen drang in jede Öffnung seiner schwarzen Lederjacke und hatte ihn bis auf die Haut durchnässt. Schwüle Wärme lag über der sumpfigen Ebene. Eine Mischung aus Schweiß und Regen klebte ihm seine schwarzen Haare ins Gesicht.
Die rote Sonne verbarg ihre übergroße Scheibe hinter einer ewigen Wolkendecke. Diesseits der Dämmerungszone stand sie unverrückbar am Himmel und verwandelte die Gegend in eine diesige Waschküche. Nur vereinzelt ragten Bäume mit fleischigen purpurnen Blättern aus dem knietiefen Wasser und filterten die infrarote Strahlung aus dem Licht des nahen Zwergsterns. Die enge Bahn des Planeten um das Zentralgestirn hatte seine Eigenrotation bereits vor Urzeiten gestoppt. Die Hitze auf der der Sonne zugewandten Seite erzeugte in den Gebieten vor der Tag-Nacht-Grenze eine Zone konstanten Regenwetters.
»Warum machen wir das hier nochmal, Healy?«, raunte Jim missmutig einem zusammengerollten Pelzball auf seiner Schulter zu.
Der Wollon entfaltete sich und streckte sich zu einer armdicken, etwa dreißig Zentimeter langen Raupe aus. Er schüttelte sich. Wasser spritzte nach allen Richtungen. Mit zwei großen Knopfaugen sah er Jim auf der Schulter sitzend an. »Es ist unser Job!«, ertönte seine hohe Stimme.
»Falsch«, widersprach ihm Jim. »Unser Job ist es, Verstöße gegen das Gleichgewicht zu verhindern. Das hier ist eine diplomatische Mission. Noch dazu in der übelsten Gegend des ganzen Planeten. Du hast einfach zugesagt, ohne mich vorher zu fragen.«
Healy pustete sich auf. »Wir sind Partner!«
»Ha!« Jim lachte auf. »Während ich mich stundenlang im Regen mit gluckernden Gobis unterhalten habe, lagst du gemütlich an einem Feuer und hast dein Fell getrocknet.«
»Ohne mich hättest du dich längst verlaufen«, erwiderte Healy. Schmollend legte er die Haare an den langgestreckten Körper.
»Ohne dich wäre ich gar nicht hier!«
In dem Moment schlängelte sich eine Gruppe Gobis an ihnen vorbei durch den Matsch. Ein Dutzend kugeliger Glubschaugen durchbrach die Wasseroberfläche. Schmutzig braunes Wasser perlte von den goldgelben Schuppen ab. Hinter ihnen zogen sie jeweils einen etwa zwei Meter langen Fischschwanz durch das seichte Wasser. Einer der Gobis stemmte sich mit seinen krallenbewährten Vorderflossen an einem umgestürzten Baumstamm aus dem Wasser. Anhand der Anzahl und Länge der fleischigen Bartzotteln um sein breites Froschmaul herum erkannte Jim den Anführer des hiesigen Schwarms, den Ältesten Squor.
Squor legte den schweren Kopf auf dem morschen Holz ab und begann zu sprechen. Jim musste sich konzentrieren, um zwischen dem ineinander übergehenden Glucksen einzelne Worte heraus zu hören. »Das Lager des Bellemon liegt ganz in der Nähe«, sagte der Älteste. Mit feuchten Augen blinzelte er Jim an. »Wir laichen in diesem Gebiet. Und im Namen des Gleichgewichts, wenn du ihn nicht dazu bringst zu verschwinden, dann gibt es Krieg!« Squor zeigte eine Reihe messerscharfer Zähne.
Jim warf dem Gobi einen missmutigen Blick zu. Die stundenlange Verhandlung in den feuchten Höhlen des Schwarms steckte ihm noch immer in den Knochen. Zum wiederholten Male beanspruchten die Bellemon diesen Teil des Sumpfes für sich, aber die Gobis waren nicht bereit, ihren Anspruch auf das Gebiet einzutauschen. Die aufgebauten Spannungen von Jahrhunderten drohten sich zu entladen.
Jims Hand wanderte zum Elektroschocker an seiner Hüfte. »Ich glaube, wir sind gerade dabei, diesen Krieg zu beginnen.«
»Sei diplomatisch!«, flüsterte ihm Healy eindringlich ins Ohr.
Jim rollte genervt mit den Augen und stapfte weiter vorwärts. Squor spuckte vor ihm einen Schwall Wasser aus. Seine Art zu sagen, dass Jim sich beeilen sollte. »Die Bellemon sehen in uns nichts weiter als Futter für ihre unersättliche Brut. Wir werden ihre Anwesenheit nicht tolerieren«, sagte der Gobi und glitt zurück ins Wasser. Sein kräftiger Schwanz wirbelte die trübe Brühe auf und die Gruppe verschwand im stetigen Nieselregen.
»Und das alles im Namen des ewigen Gleichgewichts.« Jim griff nach der Waffe und prüfte die Ladung. »Bei 327 intelligenten Spezies zusammen auf einem Planeten finden sich immer zwei, die sich streiten.« Er seufzte und schaute mit einem Auge durch das Visier der Pistole.
Healy stellte demonstrativ die Nackenhaare auf. »An dieser Stelle muss ich dich darauf hinweisen, dass es hier eigentlich nur eine intelligente Spezies gibt«, erwiderte der Wollon.
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