Karl Edding - Am Ende der Nacht

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Er starrte lange auf das blinkende «Open» Schild der Kneipe, obwohl es mittlerweile in Strömen regnete. Es war ihm egal. Die Nacht hatte so begonnen, wie sein Tag geendet hatte: beschissen. Er fragte sich, ob es so etwas wie Schicksal gab, denn wenn ja, dann spielte es ein böses Spiel mit ihm. Sein Vater hatte ihm früher immer erzählt, dass jeder, der etwas erreichen wollte, das auch schaffen konnte, wenn er nur hart genug dafür arbeitete.

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Karl Edding

Am Ende der Nacht

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Am Ende der Nacht

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Am Ende der Nacht

Er starrte lange auf das blinkende „Open“ Schild der Kneipe, obwohl es mittlerweile in Strömen regnete. Es war ihm egal. Die Nacht hatte so begonnen, wie sein Tag geendet hatte: beschissen. Er fragte sich, ob es so etwas wie Schicksal gab, denn wenn ja, dann spielte es ein böses Spiel mit ihm. Sein Vater hatte ihm früher immer erzählt, dass jeder, der etwas erreichen wollte, das auch schaffen konnte, wenn er nur hart genug dafür arbeitete.

Der heutige Tag hatte das als Lüge entlarvt. Und nebenbei war auch noch all das zerstört worden, was er sich aufgebaut hatte.

"Deine Impulsivität wird dir dein ganzes Leben lang im Weg stehen!", hatte seine Frau ihm hinterher gerufen, als er das Haus verlassen hatte, um ziellos durch die Nacht zu taumeln, ohne eine Ahnung, wohin ihn seine Füße trugen. Er war durch Viertel seiner Stadt gelaufen, die er normalerweise sogar am Tag gemieden hätte, aber heute war es ihm seltsam egal. Und irgendwann hatte er aufgeblickt und das Neonschild mit dem blinkenden "OPEN" gesehen. Und während sich das grelle Leuchten in seine Netzhaut brannte, zog der vergangene Tag noch einmal an seinem inneren Auge vorüber.

Daniel Zeus war an diesem Morgen besonders aufgeregt gewesen. Heute sollte sich seine harte Arbeit der letzten Jahre auszahlen. Er war immer ein vorbildlicher Angestellter in seiner Bank gewesen und heute sollte die vakante Stelle des Abteilungsleiters der Kundenbetreuung neu besetzt werden. Es war seiner Meinung nach ein notwendiger Schritt, da er in vielen Kundenbefragungen als einer der freundlichsten und daher auch beliebtesten Berater angegeben worden war.

"Na, mein Schatz, bist du schon aufgeregt?", fragte Becki, beugte sich zu ihm herüber und küsste ihn zärtlich auf die Wange. Er war so froh, eine Frau wie Becki an seiner Seite zu haben, die ihn ergeben liebte, der er alles erzählen konnte und der er bedingungslos vertrauen konnte. Er war mit Becki seit dem Schulabschluss zusammen und ihre Beziehung war so innig wie eh und je.

"Ja", erwiderte er nur, weil er sie stattdessen fest an sich drückte und küsste.

"Du packst das schon", meinte sie und sah ihm fest in die Augen. "Es gibt keinen, der es mehr verdient hätte als du."

Dankend küsste er sie. Becki war das Beste, was ihm in seinem Leben passiert war. Diese Frau zu heiraten und mit ihr eine Familie zu gründen, das hatte Daniel nie bereut und er hoffte, dass sie noch lange so glücklich bleiben würden – er hatte aber auch nicht den geringsten Zweifel daran. Viele hatten ihn davor gewarnt, sich so früh an nur eine Frau zu binden, aber er hatte das ignoriert, da er spürte, dass es für ihn keine Andere geben würde. Und seine beiden Kinder, Jakob und Lisa, waren der bester Beweis dafür, dass er bisher alles richtig gemacht hatte.

Er lächelte, als er ins Bad ging und sich zurechtmachte. Er hatte schon immer viel Wert auf sein Aussehen gelegt, weil er der Meinung war, dass einem ein gepflegtes Äußeres viele Türen öffnen konnte. Mit der Zahnbürste im Mund untersuchte er sein Gesicht nach Pickeln, doch er hatte Glück: Seine Haut war so rein wie selten zuvor. Das musste ein gutes Zeichen sein, beschloss er und schlüpfte in seinen Anzug, den er, wie jeden Tag, schon am Abend zuvor sorgfältig bereitgelegt hatte. Es ging doch nichts über ein geordnetes Leben.

Daniel schmunzelte in sich hinein. Ja, er war ein Spießer, aber ihm machte das nichts aus. Was nützte einem Individualität, wenn man dadurch nichts anderes erreichen konnte, als ein chaotisches Leben? Da blieb er lieber ein Mensch, der auf Ordnung Wert legte und nach festen Regeln lebte. Er machte das auch, um seinen Kindern ein gutes Vorbild zu sein, denn er fand, dass die Jugend immer mehr verrohte, und wollte das zumindest bei seinen eigenen Kindern verhindern. Oder es wenigstens versuchen.

Das Einzige, was hin und wieder seine Ordnung durcheinanderbrachte, war sein impulsives Verhalten, wenn er aufgebracht war. Dann traf er irrationale Entscheidungen, die er hinterher meistens bereute, vor allem weil ihm Becki immer wieder ins Gewissen redete. Sie war in der Hinsicht so etwas wie eine Aufpasserin, die darüber wachte, dass er nicht allzu viel Dummes anstellte.

Er fuhr sich noch einmal mit der Hand durchs Haar, prüfte den Sitz seiner Krawatte und dann verließ er das Bad und gleich darauf das Haus, da er allgemein wenig frühstückte, aber heute ohnehin keinen Bissen herunterbekommen hätte vor lauter Aufregung. Er stieg in seinen Wagen und fuhr los. Sein Weg führte ihn jeden Tag an denselben Häuserblocks entlang, aus denen – wie jeden Tag – dieselben Menschen kamen. Daniel kannte sie mittlerweile fast alle:

Da war die ältere Dame aus der Herrmannstraße, die jeden Morgen um die gleiche Uhrzeit ihren Mopps auf das kleine Karree Wiese vor dem grauen Hochhaus ausführte.

Oder der Hundertkilo-Mann aus dem Langustenweg, der sich in einen Smart zu quetschen versuchte und dabei der Transe zuwinkte, die aus der Doppelhaushälfte neben ihm gestöckelt kam, sich auf einen pinken Vespa-Roller setzte und auf dem Fahrradweg davonbrauste.

Dann gab es noch den Hobby-Türken, der in Jogginganzug und Feinripp-Unterhemd wirklich jeden Tag zur gleichen Zeit seine Morgengymnastik vor der verglasten Wintergartenfront seines Hauses in der Färbergasse machte, sowie die Oma und der Opa, die mit ihren Gehwägelchen vor besagtem Wintergarten standen, spöttelnd den Kopf schüttelten und dann Hand in Hand weiterliefen.

"So will ich mit Becki auch einmal enden", dachte Daniel, wobei er natürlich meinte, dass er auch noch in so hohem Alter mit seiner Frau glücklich sein wollte. Darum liebte er die Ordnung in seinem Leben, da sie ihm jeden Tag zeigte, dass er nicht der Einzige mit festen Ritualen war, und außerdem hatte er seine Leute, wie er sie nannte, inzwischen schon wirklich liebgewonnen.

Seine allmorgendliche Reise sah einen kurzen Stopp bei Starbucks vor, wo er sich einen Frappuccino zum Mitnehmen kaufte und ihn dann auf dem restlichen Weg zur Arbeit langsam trank. Denn da es an seiner Bank wenig Parkmöglichkeiten gab, hatte er es sich zur Angewohnheit gemacht, die letzte Strecke zwischen Starbucks und Bank zu laufen. So war er immer nochmal kurz an der frischen Luft und bekam die Bewegung, die ihm im Job manchmal fehlte. Daniel war ein Sportmensch. Er spielte Squash, Tennis und Badminton, joggte in jeder freien Minute und versuchte, zumindest einmal die Woche ins Fitnessstudio zu gehen.

Er trank seinen Kaffeebecher mit einem letzten Zug aus und beförderte ihn in hohen Bogen in den Mülleimer an der Laterne neben dem Haupteingang der Bank. Meistens traf er auch und nahm das dann immer als ein gutes Omen auf. So auch heute, der Becher schlug zwar erst am Rand des Eimers auf, kippte dann aber schlussendlich doch hinein und nicht heraus. Daniel atmete tief durch, straffte seine Schultern und ging durch die Drehtür in die Empfangshalle.

Eigentlich hätte er den Angestellteneingang benutzen sollen, aber er hatte es gerne, wenn er schon beim Betreten der Bank mit den Kunden in Kontakt trat. Zwar bemerkten die meisten von denen, die gerade dann in der Bank waren, wenn er kam, das gar nicht, aber er hatte auch schon den einen oder anderen freundlichen Blick deswegen geerntet. Es gefiel den Kunden, dass er sich nicht als jemand aufspielte, der sich um jeden Preis von ihnen abgrenzen musste. Von so einem ließ man sich ja auch nicht gerne beraten. Lieber von jemandem, der gemütlich mit dem Starbucks-Becher durch die Straßen schlenderte und durch den normalen Eingang die Bank betrat, als von einem, der mit einer dicken Karre ins Parkhaus der Bank bretterte und dann durch einen privaten Eingang ins Gebäude kam, um ja nicht zu früh mit Kunden in Kontakt treten zu müssen.

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