Dies rief auch wieder seinen steifen Nacken in Erinnerung und langsam spürte er den Schmerz in seinen Kopf wandern, wo er sich unangenehm ausbreitete. Er bat den Kellner um ein Aspirin, weil er das Übel schon in seinem Ansatz ersticken wollte. Seine Konzentration sollte sich voll auf das bevorstehende Gespräch richten und nicht durch eine Beschwerde abgelenkt werden.
Er spülte die Tablette mit einem großen Schluck Wasser hinunter und massierte sich anschließend die Schläfen. Dabei kehrten seine Gedanken zur Wilden Lena zurück. Er beschloss, seine Gefühle für sie augenblicklich zu unterdrücken und Helene um Verzeihung für den unangenehmen Zwischenfall gestern Abend zu bitten, um weiterhin mit ihr schlafen zu können. Denn dass er das nach wie vor tun wollte, war ihm völlig klar.
Er ging sogar noch einen Schritt weiter und nahm sich vor, den freizügigen Umgang mit der Sexualität, wie er ihm von der Wilden Lena vorgelebt wurde, zu übernehmen und seinerseits seine Träume und die damit verbundene Leidenschaft auszuleben, die er bis anhin in aller Anständigkeit unterdrückt hatte. Wenn sich während eines Annäherungsversuchs bei einer Frau nach seiner Einschätzung die Möglichkeit auf ein erotisches Stelldichein ergeben sollte, würde er sich in Zukunft nicht mehr zurückhalten und sie mit seinem Charme umgarnen, um sie ins Bett zu bekommen.
Er betrachtete den üppigen Frauenkörper auf dem Notizblatt und fand, dass seine Zeichnung gar nichts so schlecht ausgefallen war. Dann schrieb er das Wort Liebe darunter und versank wieder in Gedanken, währenddem er das Blatt mit Fragezeichen in sämtlichen Größen füllte. Plötzlich hielt er inne, nickte zufrieden und ergänzte den Begriff mit Wörtern links und rechts davon zu einem Satz. Er faltete das Blatt einmal, so dass nur noch der Notenschlüssel und der hinzugefügte Satz sichtbar waren. In sauberen Druckbuchstaben stand da geschrieben:
Meine Liebe gehört allein der Musik.
*
Hans Heinrich Baumberger war ein kleiner, untersetzter Mann mit einem mächtigen Vollbart, dem ein bisschen mehr Pflege gut angestanden wäre – ähnlich wie bei Professor Glauser bevor ihn Helene Weber im Kino befriedigt hatte. Seine roten Backen strahlten und vermittelten ein Gefühl von Gemütlichkeit und Vertrauen. Sobald er allerdings den Mund öffnete, war es vorbei mit der Ruhe, und die Worte prasselten stakkatoartig, wie Hagelkörner, in seinem nasalen Zürcher Dialekt auf einen nieder. Selten hatte Victor einen Menschen gesehen, bei dem Aussehen und Verhalten so inkompatibel zu sein schienen wie bei seinem Gegenüber.
Man trank keinen Wein, wie zwei Tage zuvor mit Ferdinand Tanner in der Bellevue-Bar, und es gab keine gemütlichen Polstersessel, in die man versinken konnte; Baumberger orderte einen Krug mit Wasser und entnahm unverzüglich Schreibunterlagen aus seinem Aktenkoffer.
»Ich bin der Meinung, dass wir sofort mit Vermittlungen beginnen müssen«, erklärte Baumberger, als Victor ihm berichtet hatte, dass der Musikkritiker des Bunds daran war, einen Artikel über ihn zu verfassen, der in den nächsten Tagen publiziert werden sollte. »Ich kenne den Tanner gut und esse außerdem wöchentlich mit dem Redaktor des Feuilletons der Neuen Zürcher Zeitung . Mal schauen, da müsste etwas zu machen sein. Ich werde mich darum kümmern, dass umgehend ein Zürcher Journalisten bei Ihnen vorbeikommt. Wir müssen so rasch wie möglich dafür sorgen, dass Sie auch außerhalb von Bern die nötige Aufmerksamkeit erlangen.«
Victor hatte vor sich auf dem Tisch den ausführlichen Fragekatalog liegen, den er in den letzten Tagen akribisch vorbereitet hatte und mit dem er Baumberger konfrontieren wollte – die Zeichnungen, die er vorher noch angefertigt hatte, hatte er vor der Begrüßung mit dem Musikagenten in seine Ledermappe verschwinden lassen.
Als dieser den vollgeschriebenen Block erblickte, griff er nach ihm und vertiefte sich in die handgeschriebenen Zeilen. Von Zeit zu Zeit war ein leicht verächtliches Zucken in seinem Mundwinkel festzustellen, und er meinte, nachdem er den Block umgedreht neben sich auf den Tisch gelegt hatte:
»Sehen Sie, Herr Steinmann. Ich sage Ihnen geradeheraus, wie es ist: Sie sind momentan nicht in der Position, um Forderungen zu stellen. Das wird sich vielleicht im Laufe der Jahre noch ändern. Wir wollen jetzt zunächst versuchen, Ihre Karriere zu lancieren. Ich kann Ihnen nicht bereits morgen den nächsten Auftritt anbieten. Sie wissen bestimmt, dass die Konzerthäuser ihre Programme ziemlich langfristig planen. Vielleicht kann ich irgendwo in der Schweiz in diesem Jahr noch ein Sonderkonzert mit Ihnen unterbringen, aber ansonsten werden Sie wohl etwa in ein oder zwei Jahren beginnen können, regelmäßig zu dirigieren.«
Paul Glauser klopfte Victor auf die Schulter, als sie am nächsten Tag gemeinsam mit Luc Balmer in der Bierquelle das Gespräch mit Hans Heinrich Baumberger Revue passieren ließen:
»Schauen Sie mal, das ist ja eigentlich ideal. Sie müssen ja ohnehin noch Ihr Studium abschließen und haben außerdem noch genug Zeit, um weiterhin Unterricht bei Luc Balmer zu nehmen und ihm über die Schulter zu blicken. Das ist doch eine ideale Vorbereitungszeit.«
Balmer war glücklich, dass er wieder gesund war – das spontane Bier hatte Wunder gewirkt, und seine Gedanken kreisten um die nächste Orchesterprobe, doch als er seinen Namen hörte, horchte er auf und nickte eifrig:
»Gleich morgen, Victor. Schumanns Zweite! Kommen Sie gut vorbereitet!«
Obschon das alles sehr vernünftig tönte, war Victor überhaupt nicht zufrieden. Er hatte das Baumberger gegenüber beim Gespräch im Bahnhofsbüffet auch schon geäußert und ihm selbstbewusst erklärt:
»Mein Ziel ist der Musikvereinssaal in Wien.«
Baumberger war unbeeindruckt geblieben, hatte ihn mit seinen listigen Augen gemustert und sich mit der Hand über den dichten grauen Bart gestrichen.
»Man soll sich große Ziele setzen, Herr Steinmann. Ich merke, dass Sie sehr hohe Ansprüche an sich selbst und somit auch an mich stellen. Doch klammern wir dieses Fernziel doch einmal aus und lassen Sie uns gemeinsam überlegen, welches die nächsten Schritten sind, die wir in Angriff nehmen wollen.« Er schob den umgedrehten Notizblock mit den Fragen zu Victor hinüber und holte ein Taschentuch hervor, um damit seine goldumrandete Brille zu putzen. »Sehen Sie, ich bin hier nach Bern gekommen, um Sie erst einmal kennenzulernen. Die Kritik im Bund von Ferdinand Tanner hat mich aufhorchen lassen, und außerdem kenne ich ein paar Leute persönlich, welche Ihr Konzert vor Ort miterlebt haben. Sehr zuverlässige Leute, auf deren Urteil ich mich verlassen kann.« Er hauchte an die Brillengläser und putzte seelenruhig weiter. »Ich sehe in Ihnen einen begabten, dynamischen und vor Ungeduld strotzenden jungen Musiker. Wie bereits erwähnt bin ich gerne direkt und ohne Umschweife, Herr Steinmann. Deshalb sage ich Ihnen deutlich: Üben Sie sich in Geduld, die brauchen Sie auf Ihrem Weg, wenn Sie Karriere machen wollen. Und Sie brauchen mich. Ohne Agenten kommen Sie nicht weiter. Also bitte ich Sie inständig, uns – das heißt meiner Agentur und mir – zu vertrauen. Wir kennen die Regeln in diesem Geschäft und haben den Eindruck, dass Sie es wert sind, wenn wir in Sie investieren. Konzentrieren Sie sich auf die Musik, nützen Sie die verbleibende Zeit sinnvoll, studieren Sie Partituren, lassen Sie sich von Ihren Lehrern und Mentoren beraten. Setzen Sie alles daran, um sich jeden Tag aufs Neue herauszufordern und zu verbessern. Aber alles andere«, und damit setzte er seine Brille wieder auf die Nase und blickte Victor fest in die Augen, »alles andere überlassen Sie bitte uns. Überlegen Sie sich das gut, sprechen Sie sich mit ihrer Familie ab, diskutieren Sie meinen Vorschlag mit ihren Vertrauten und melden Sie sich dann wieder bei mir.«
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