Doch schon nur die Kontaktaufnahme gestaltete sich äußerst schwierig, um nicht zu sagen, erfolgslos. Sie telefonierte ins Elternhaus in Köniz, wo sich Mama Gertrud riesig über den Anruf freute. Sie sei doch wirklich ein wunderschönes und liebes Mädchen, ließ sie verlauten und es freue sie außerordentlich, dass ihr Sohn eine so feine Freundin gefunden habe – womit Charlottes Frage geklärt war, ob Victor seinen Eltern von der Trennung erzählt haben könnte, womit sie allerdings nicht wirklich gerechnet hatte. Nein, der Victor komme fast nur noch zum Schlafen nach Hause und, ja, selbstverständlich werde sie ihm von Charlottes Telefongespräch erzählen. Er werde sich ganz bestimmt umgehend bei ihr melden, und es sei so schön, wieder einmal mit ihr gesprochen zu haben, und sie freute sich sehr, wenn Charlotte sie einmal in Köniz besuchen kommen würde.
Selbstverständlich wartete die angehende Lehrerin vergebens auf Victors Anruf, und so beschloss sie, ihm vor dem Konservatorium aufzulauern. Doch tatsächlich hatte sie keine Ahnung, wann genau sich Victor dort aufhielt, und so begab sie sich Tag für Tag an die Kramgasse, zu allen möglichen Zeiten, sei es am Morgen vor ihrem Schulbeginn, über den Mittag oder gegen den Abend, wenn sie ihren Unterricht beendet hatte. Dann wartete sie meistens mehr als eine Stunde im Laubengang, hoffte, dass sich die Türe öffnen und er heraustreten würde und fragte die Studenten, welche das Konsi verließen, nach Victor Steinmann.
Sie lief durch Berns Altstadt und warf einen Blick in die Lokale, die sie mit ihm gemeinsam besucht hatte und besuchte die Orte, von denen sie wusste, dass er sich gerne dort aufhielt.
Nichts. Victor Steinmann war wie vom Erdboden verschluckt.
Sie wusste nicht mehr, was sie machen sollte; das Warten vor dem Konsi wurde ihr langsam zu blöd, und in ihrer Verzweiflung entschied sie sich, in Bruno Steinmanns Praxis vorbeizuschauen. Mama Gertrud, die an diesem Tag die Empfangstheke betreute, war hoch erfreut, ihre vermeintlich zukünftige Schwiegertochter zu sehen, und war überaus betroffen, als sie erfuhr, dass Victor sich nicht bei ihr gemeldet habe.
»Ich habe ihm von deinem Anruf erzählt, mein Kind, und ich hatte den Eindruck, dass er sich darüber freute.« – Victors Schauspielkunst hatte schon in jungen Jahren ein ziemlich hohes Niveau erreicht. – »Auf jeden Fall versprach er, dich am nächsten Tag anzurufen. Aber ich habe natürlich nicht nachgefragt, ob er es auch getan hat.«
Als Charlotte ihr berichtete, dass Victor und sie momentan ein paar Probleme hätten, die sie gerne mit ihm klären würde – natürlich nannte sie keine Details –, schlug Gertrud die Hände über dem Kopf zusammen, sodass selbst der Berner Sennenhund, der neben ihr lag, besorgt zu ihr aufblickte.
»Jesses Maria! Wie furchtbar! Du sorgst dich und bemühst dich, dass alles wieder gut kommt, und unser lieber Herr Sohn bleibt einfach unerreichbar und zeigt kein bisschen Anstrengung zur Versöhnung. Gut, dass du zu mir gekommen bist, mein liebes Kind. Ich schlage vor, dass du heute Abend zu uns zum Essen kommst. Es gibt nämlich Fisch, den Victor sehr mag und den er sich bestimmt nicht entgehen lässt. Dann können wir gemeinsam zu Abend essen, Bruno wird seine Praxis nämlich heute auch pünktlich schließen können und hat keine Hausbesuche mehr auf dem Programm. Und dann lassen wir euch zwei zum Kaffee alleine, oder noch besser: Ihr macht einen schönen Spaziergang und klärt eure Probleme. Das wäre doch gelacht, wenn sich keine Lösung finden würde.«
Soweit Gertrud Steinmanns gut gemeinter Plan, und es wäre spannend gewesen, wie Victor reagiert hätte, wenn er am gedeckten Tisch in seinem Elternhaus die Frau vorgefunden hätte, die ihn vor Wochenfrist noch lautstark beschimpft und vor die Türe gestellt hatte.
Leider beging Charlotte Arnold einen entscheidenden Fehler, und zwar beschloss sie, an diesem herrlichen Frühlingsabend den Weg vom Breitenrain nach Köniz mit dem Fahrrad zurückzulegen. Und dieses Gefährt stand an den Gartenzaun gelehnt, als sich Victor Steinmann vor dem Haus seiner Eltern einfand, voller Vorfreude auf die Forelle blau, die seine Mutter hervorragend zu kochen wusste und die sie in zerlassener Butter mit Salzkartoffeln servierte.
Erschrocken wich er zurück, als er das Zweirad entdeckte, und versteckte sich geistesgegenwärtig hinter dem nächstgelegenen Baum, wo er zuerst einmal tief durchatmete und von wo aus er das Fahrrad einer genaueren Betrachtung unterzog.
Er hatte letzten Herbst mit Charlotte einmal einen Fahrradausflug ins Gürbetal gemacht. Sie hatte einen Picknickkorb zusammengestellt, und gemeinsam fanden sie einen romantischen Platz am Waldrand mit Blick auf die Aare, wo sie sich in den Armen lagen und sich gegenseitig die Köstlichkeiten, die sie eingepackt hatte, in den Mund schoben. Es war das nächste Treffen gewesen, nachdem sie sich vor dem Berner Münster geküsst hatten und dementsprechend euphorisch waren sie beide gewesen und hatten nicht voneinander lassen können – alles natürlich im korrekten Rahmen, wie es sich schließlich gehörte!
Victor knurrte verärgert, als sich diese Bilder mit seiner Erinnerung an die erzürnte Charlotte vermischten, die ihn vor einer Woche abgekanzelt hatte. Er war sich nicht hundertprozentig sicher, dass es sich beim Fahrrad, das dort drüben stand, tatsächlich um dasjenige handelte, mit welchem sie den damaligen Ausflug bestritten hatte. Aber er beschloss, kein Risiko einzugehen, drehte um und fuhr mit dem Bus in die Stadt zurück.
Er hatte beschlossen, dass er sich nach dieser unangenehmen Überraschung, die dazu geführt hatte, dass er auf seine geliebte Forelle blau in zerlassener Butter verzichten musste, eine nette Abwechslung gönnen würde.
Er dachte natürlich an die Wilde Lena, die ihm gestern in der Bierquelle aufreizend tief in die Augen geblickt und eindeutige Signale ausgesendet hatte. Seine Aufmerksamkeit hatte zwar den Berichten von Paul Glauser und Luc Balmer über den Musikagenten Hans Heinrich Baumberger gegolten, den er morgen ja treffen sollte. Doch er hatte Helene Webers Blicke eindeutig gespürt und befand jetzt, da er sich im Bus Richtung Stadt befand, dass sie sich eine wilde und aufregende Nacht verdient hätten.
Er spielte in seinen Gedanken Filmregisseur und stellte sich in schnellen Schnitten abwechslungsweise die Szene bei sich zu Hause vor und das, was ihn bei der Wilden Lena erwarten würde. Die Bilder könnten nicht unterschiedlicher sein. Hier der gedeckte Tisch, an dem seine Eltern und Charlotte saßen – sie natürlich mit hochgesteckten Haaren und in einem zugeknöpften Oberteil –, immer wieder auf die Uhr schauten, sich fragten, wo er denn wohl bleiben könnte und Charlotte vertrösteten, er werde bestimmt gleich kommen. Und auf der anderen Seite die offenen roten Haare der Wilden Lena, die in schwarzer Seidenunterwäsche zwischen seinen gespreizten Beinen lag, das schmale Hinterteil in die Höhe gestreckt, die üppigen Brüste leicht hin und her schwingend und mit einer aufreizend langsamen Bewegung seinen Penis in ihren Mund gleiten ließ.
Victor schloss die Augen und griff sich in den Schritt. Erschrocken setzte er sich sofort wieder kerzengerade auf und stellte erleichtert fest, dass die wenigen Fahrgäste im Bus alle mit sich selbst beschäftigt waren, zum Fenster hinausblickten, Zeitung lasen und ihn keines Blickes würdigten.
Erleichtert sank er in seine Tagträume zurück und je schneller sich die Bilder von der gierigen Helene und der wartenden Charlotte vor seinem geistigen Auge abwechselten, desto erregter wurde er.
Und so klingelte er in freudiger Erwartung an Helene Webers Türe und war hocherfreut, dass sie den gleichen Bademantel trug, in dem sie ihm bereits vor einer Woche Einlass gewährt hatte. Sie blieb zwischen Türe und Rahmen stehen und zog den Stoff etwas enger zusammen.
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