Victor bejahte und sollte sich bereits in zwei Tagen mit Hans Heinrich Baumberger treffen, der eigens für die Verhandlungen aus Zürich anzureisen gedachte und damit die Wichtigkeit seiner Absichten noch deutlich unterstrichen hatte.
Vorerst hatte sich der angehende Dirigent jedoch mit Ferdinand Tanner am Abend für ein Gespräch in der Bellevue-Bar verabredet.
*
»Und, wie war Ihr Treffen mit dem Berner Musikpapst?«, begrüßte Paul Glauser den jungen Steinmann am nächsten Morgen.
»Tanner ist eine Ratte«, zischte Victor verächtlich. »Er sieht sich als die höchste Instanz der musikalischen Rechtsprechung von Bern, ach was sag ich, von der ganzen Schweiz.«
Was Victor seinem Professor allerdings verschwieg, war, dass der Musikkritiker ihn mit der Wahl des Treffpunktes schwer beeindruckt hatte. Staunend hatte er die Räumlichkeiten und die Einrichtungen der Bellevue-Bar bewundert, ehrfürchtig über das glänzende Leder der Sessel gestrichen und insgeheim den guten Geschmack von Ferdinand Tanner honoriert, der sich in dieser Umgebung wie zu Hause zu fühlen schien, die Kellner allesamt beim Vornamen nannte und seinem Gegenüber stilsicher einen edlen Rotwein vorschlug, als dieser ein Mineralwasser bestellen wollte.
»Wir wollen auf Ihren Erfolg doch noch anstoßen, werter Maestro«, hatte er nach der Bestellung gesäuselt, »und dazu empfinde ich ein stilles Wasser als äußerst ungeeignet.«
Victor hatte die lüsternen Blicke und den anzüglichen Tonfall schon bei der Begrüßung registriert und beschlossen, diese Zuneigung zu seinen Gunsten auszunutzen.
Er hatte sich vorgenommen, immer freundlich und höflich zu sein zu Leuten, die ihm später vielleicht einmal noch von Nutzen sein könnten – eine Eigenschaft, die er schon ziemlich früh ablegen und an seinen Manager delegieren sollte.
Die beiden Männer unterhielten sich angeregt, Victor blieb jedoch zurückhaltend, reagierte vorsichtig auf Tanners Fragen und ließ sich mit den Antworten viel Zeit – ein Umstand, der den Musikkritiker ziemlich ungeduldig machte und ihn dazu zwang, ziemlich rasch ein zweites Glas Rotwein nachzubestellen.
Victor erzählte von Zuckerfrank, Mademoiselle Szábo und Paul Glauser und nannte sie allesamt seine großen Förderer. Die Geschichte mit seiner musikalischen Mutter, die ihn mit viel Liebe in seiner Entwicklung unterstützt haben soll, konnte er zu diesem Zeitpunkt aus verständlichen Gründen noch nicht zum Besten geben, aber er war voll des Lobes für den liebevollen Aufbau, den Wilhelm Frank geleistet hatte und äußerte sich auch wohlwollend über die strenge Hand von Krisztina Szábo, die ihm zwar Kummer und Verdruss bereitet hatte, aber ohne die er niemals dort stehen würde, wo er sich jetzt befand. Doch am meisten Lob spendete er Luc Balmer, der sich trotz seines dicht gedrängten Terminkalenders viel Zeit für ihn genommen habe und ihm immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden sei. Außerdem wäre es ausschließlich seiner Güte zu verdanken, dass diese Auftritte im Casino überhaupt zustande gekommen seien.
Ferdinand Tanner bedankte sich bei Victor für das ausführliche Gespräch, nahm mit Bedauern zur Kenntnis, dass er bei ihm keine gleichgeschlechtlichen Neigungen ausmachen konnte, und versprach, sich zu Hause sofort sehr lustvoll an das Verfassen des Artikels zu machen, wie er sich in seiner oft etwas gestelzten Sprache ausdrückte.
All das verschwieg Victor allerdings beim Gespräch mit Paul Glauser und zeigte sich stattdessen von seiner überheblichen Seite:
»Sagen Sie mir ehrlich, Professor, sollte man als Musikkritiker nicht Kenntnisse der Partitur haben, wenn man in der Öffentlichkeit ein Konzert bespricht?« Da Glauser nur erstaunt die Augenbrauen hob und eine Antwort schuldig blieb, fuhr Victor fort: »Meines Erachtens hat er nur profane Kenntnisse davon. Ich bin mir nicht sicher, welchen Anteil die Musik und welchen Anteil die Persönlichkeit des Künstlers in seinem Urteil jeweils hat. Auf jeden Fall ist er in sämtliche Fallen hineingetappt, die ich ihm gestellt habe, um zu testen, wie fundiert seine Partiturkenntnisse wirklich sind. Aber zugegeben: Es waren sehr detaillierte Spitzfindigkeiten, die ich in unserem Gespräch habe einfließen lassen, und er hat mir mit seinen Antworten die Gewissheit gegeben, dass er nicht von allem so viel Ahnung hat, wie er zu wissen vorgibt.«
»Sie haben Ferdinand Tanner getestet?«, entfuhr es Professor Glauser.
»Warum nicht?«, grinste Victor nun spitzbübisch. »Aber Sie hatten mit Ihrer Warnung völlig Recht und eines muss man ihm lassen: Er weiß, wie er einem den Schmus bringen kann, das hat er gestern sehr eindrücklich bewiesen; insbesondere für meine Schlagtechnik war er voll des Lobes. Am Ende wollte er mich noch zu einem kleinen Umtrunk zu sich nach Hause einladen. Doch da musste ich leider ablehnen.«
»Hoffentlich nimmt er Ihnen das nicht übel.«
»Ach was«, winkte Victor ab, »der hing mir richtiggehend an den Lippen. Ich bin überzeugt, dass ich von ihm gute Kritiken erwarten kann – denn schreiben, das kann er, und ich bin sicher, dass er einen sehr wohlwollenden Artikel über mich verfassen wird.«
*
Charlotte Arnold hatte schlimme Tage hinter sich, die sie weinend in ihrem Zimmer im Hause ihrer Eltern im Breitenrain verbracht hatte, wenn sie nicht gerade den Unterricht am Seminar besuchte oder auf der Suche nach Victor Steinmann war.
Sie war sich inzwischen sicher, einen riesigen Fehler begangen zu haben – schon in der Nacht, als sie ihn abrupt weggeschickt hatte, waren ihr die ersten Zweifel gekommen, und am Morgen danach war sie am Boden zerstört gewesen – und hatte beschlossen, sich bei Victor dafür zu entschuldigen, um wieder an die wundervolle gemeinsame Zeit anknüpfen zu können.
Weshalb hatte er auch nur so ungestüm sein müssen! Oder war es etwa gar ihr Fehler gewesen? Zugegeben, sie war an diesem Abend ziemlich beschwingt gewesen, der gute Wein hatte das Seinige dazu beigetragen. Hatte sie ihm etwa Signale ausgesendet, die er falsch aufgefasst und gedeutet hatte? War es etwa gar ihre Schuld gewesen, dass der Abend so katastrophal geendet hatte?
Die Fragen lasteten schwer auf ihr und raubten ihr manchmal fast die Luft zum Atmen. Wenn sie sich grübelnd ins Bett legte, hatte sie das Gefühl, dass ein schwerer Stein auf ihrer Brust lag, dessen schicksalhaftes Gewicht sie in die weichen Daunen drückte und ihr sämtliche Kraft zum Handeln nahm.
Manchmal schienen sogar ihre Gedanken blockiert, und sie blieb in ihren Schuldgefühlen stecken und schämte sich so sehr, dass sich augenblicklich die Augen wieder mit Tränen füllten und sie sich umdrehte und mit erstickter Stimme ins Kopfkissen hinein weinte.
Den Eltern und ihrem Bruder gegenüber versuchte sie, sich nichts anmerken zu lassen, was sie enorm viel Energie kostete und sie zusätzlich anstrengte. Die Bemerkungen, dass man den jungen Maestro schon lange nicht mehr gesehen habe, parierte sie mit der Erklärung, dass Victor im Moment sehr viel zu tun habe und sie sich aber fast jeden Tag, wenn auch nur ganz kurz, in der Stadt treffen würden.
Ihre beste Freundin Sophie war die einzige, die sie in ihre Misere eingeweiht und ihr den unglückseligen Verlauf des Abends haarklein geschildert hatte. Diese gab aber zu verstehen, dass sie Charlottes Reaktion auf Victors Annäherungsversuch durchaus angemessen fände und riet ihr, den jungen Steinmann zu vergessen, denn sein Handeln zeige unmissverständlich, dass es ihm doch nur um das Eine gehe.
Charlotte habe etwas Besseres verdient, so Sophie, und da sei doch noch dieser anständige Medizinstudent, der ein Auge auf sie geworfen habe und den sie ihr gerne vorstellen würde.
Wenn Sophie so sprach, plärrte Charlotte aus vollem Hals, und es brauchte viele aufmunternde Worte und Streicheleien durchs Haar, damit sie wieder einigermaßen ruhig gestellt werden konnte. Natürlich genoss sie den Zuspruch und die tröstenden Worte, andererseits wurde ihr aber auch klar, dass sie auf die Hilfe ihrer Freundin nicht zählen konnte und dass sie sich selber einen Weg überlegen musste, wie sie es schaffen würde, Victor wieder für sich zu gewinnen.
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