Martin Geiser
Beethoven in Sneakers
Roman
Titelbild:
Brooke Fishwick: »A pair of black Converse sneakers«, 2010
Autorenfoto: © Bernhard Jörg
Beethoven in Sneakers
Martin Geiser
Copyright: © 2018 Martin Geiser
Lektorat: Bruno Wegmüller
Druck: epubli ein Service der neopubli GmbH, Berlin
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Bibliografische Information der
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Für Gabriela, in Liebe
Dies Geschöpf der Finsternis erkenn’ ich
Für meines an.
William Shakespeare – Der Sturm, 5. Aufzug
Inhalt
1 Zweifel
2 Ein Schwein namens Churchill
3 Signor Carbonara
4 Im Stübli
5 Schicksals-Symphonie
6 Gespräche mit Doktor Fleischhauer
7 Visionen
8 La Prairie
9 Allegro con spirito
10 Alltägliche Wirren
11 Feuerteufel
12 Old fucking Louis
13 Gregor
14 Dead End
15 Musikalische Opfer
16 Home, sweet home
17 Metamorphosen
18 Mahlers Sechste
19 In der Finsternis
20 Rhapsody in Black
21 Hoffnung
Danksagung
Anhang
1
Zweifel
Februar 2017
Das Unerreichbare liegt unmittelbar auf der nächsten Stufe.
Mit solchen, zum Teil provozierenden Maximen hatte sich Lars van Loon, der bekannte Pianist und Dirigent, einen Namen gemacht – weit über den kleinen Kreis von Liebhabern klassischer Musik hinaus. Er liebte es, mit solchen Aussagen herauszufordern und seine Zuhörer zum Nachdenken anzuregen. Mit seinem quirligen und rastlosen Wesen ließ er ihnen aber gar nicht viel Zeit, um sich mit seinen Äußerungen auseinanderzusetzen und darüber zu reflektieren.
Am liebsten stapfte er während seinen Betrachtungen von einer Ecke in die andere, klatschte dabei in die Hände oder hatte sie hinter dem Rücken verschränkt, und spann seine Gedanken weiter, führte aus, worüber die anderen noch im Begriff waren, sich den Kopf zu zerbrechen, stets mindestens zwei Züge voraus:
»Doch wie gelangen wir bloß auf die nächste Stufe – und ist es überhaupt wünschenswert, sie zu erklimmen? Sollte das Unerreichbare für uns nicht immer in weiter Ferne liegen? Erstrebenswert, sich daran anzunähern? Vielleicht, gewiss sogar, und jeder Schritt, mit dem man ihm näherkommt, ist mit Freude und Genugtuung begleitet. Aber eben auch immer mit der Gewissheit im Hinterkopf, dass man die Distanz stets nur halbieren kann.«
Wenn er dann in die verblüfften Gesichter seiner meistens nicht mehr ganz nüchternen Zuhörer blickte und darin ihre Überforderung beinahe ablesen konnte, so brach er in schallendes Lachen aus, schlug sich auf die Oberschenkel und griff nach einem weiteren alkoholischen Getränk. Am liebsten war ihm ein Gin Tonic, den er sich vorzugsweise mit einer in frischem Pfeffer eingelegten Gurkenscheibe servieren ließ, und böse Zungen behaupteten, dass ihm dabei der Anti-Aging-Effekt, welcher dem kalorienarmen Getränk nachgesagt wurde, ebenso wichtig sei wie das genussvolle Trinken.
Lars van Loon verstand es vortrefflich, seine Zuhörerschaft mit provozierenden Aussagen, schrägen Anekdoten und skurrilen Geschichten zu unterhalten und wurde nicht müde, immer wieder von Neuem weitere Episoden aus seinem reichen Erfahrungsschatz hervorzuzaubern, die richtiggehend aus ihm heraussprudelten. Und wenn er in seiner wilden Fabulierlust keinen passenden Anschluss fand, so liebte er es, Herrmann Hesse zu zitieren – irgendeine Stelle aus dessen Gedichten oder Prosawerken, die Lars van Loon scheinbar alle auswendig aufsagen konnte und von denen er immer ein passendes Zitat zur Hand hatte:
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf’ um Stufe heben, weiten.
Und dann war es aber auch möglich, dass seine Stimmung von einer Sekunde zur anderen komplett kippen konnte; wo vorher noch Lachfalten in seinen Augenwinkeln gesessen hatten, übernahmen strenge, ernste Züge plötzlich die Oberhand, und wie aus dem Nichts, völlig zusammenhangslos, meinte er zum Beispiel:
»Dort, wo ich herkomme, kann man den Menschen keine größere Freude bereiten, als wenn man scheitert!«
Dann war es vorbei mit seiner Ruhelosigkeit, und man hatte das Gefühl, eine völlig andere Person vor sich zu haben. Verschwunden war der Derwisch, der noch vor wenigen Augenblicken alle Anwesenden bestens unterhalten hatte – auf hohem und anspruchsvollem Niveau notabene. Zurück blieb ein kleiner, feingliedriger Mann, der plötzlich enorm zerbrechlich wirkte, und dem man die Energie, die er zuvor noch versprüht hatte, nicht im Entferntesten zusprechen würde.
Die dunklen, dichten Haarlocken, die sein schmales Gesicht säumten und ihm zuvor wild um den Kopf geflogen waren, fielen nun schlaff in die Stirn und bildeten eine Art Vorhang, sodass sich seine Augen, aus denen das aufgeregte und elektrisierende Leuchten völlig verschwunden war, dahinter verbargen.
Die Worte, die wohlmoduliert und in einem überbordenden Tempo aus seinem Mund geströmt waren, wurden plötzlich leise und eintönig und waren durchtrieft von einer stumpfen Traurigkeit. Seine ohnehin stets etwas gebückte Haltung wurde dabei noch ausgeprägter, und man musste sehr gut hinhören und aufmerksam seinen Ausführungen lauschen, um ihn überhaupt noch zu verstehen.
Wer Lars gut kannte, der wusste, dass es in diesem Zustand zwei Möglichkeiten gab, wie der weitere Verlauf des Beisammenseins verlaufen sollte: Entweder kippte die Stimmung plötzlich wieder auf die andere Seite (und er würde noch quirliger und aufgedrehter seine Anekdoten aus dem Hut zaubern) oder es würde nicht mehr lange dauern, bis der Maestro den Anlass verlassen würde – aber nicht bevor er mindestens noch zwei Gin Tonic runtergestürzt hatte, was bei ihm sehr selten viel Zeit in Anspruch nahm.
Seine schwankende Gefühlsverfassung war bekannt und wurde auch meistens toleriert, der Künstlerbonus war dabei sehr hilfreich. Gelegentlich wurden ein paar höhnische Stimmen laut, die Lars van Loon sämtlichen Anstand absprachen und seine Auftritte scharf verurteilten, doch das störte ihn selber am allerwenigsten.
»Man kann’s nicht allen recht machen!«, war einer seiner Leitsätze, und um die Meinungen anderer kümmerte er sich in der Regel keinen Deut. Kritik prallte an ihm ab, auch positive Rückmeldungen ignorierte er weitgehend. Die einzige Stimme, auf die er hörte und auch Wert legte (neben seiner eigenen, selbstverständlich), war diejenige seines Managers und Freundes Sergio Carbotti, den Lars liebevoll Signor Carbonara nannte. Ein sehr nachvollziehbarer Spitzname, da der Italiener gefühlte zweihundert Kilogramm wog und Pastagerichte sowie sahnige Saucen über alles liebte – dementsprechend mächtig war sein Bauchumfang.
Obwohl den fülligen, liebenswerten Mittfünfziger beinahe nichts aus der Ruhe bringen konnte, hielt ihn Lars mit seinem fahrigen und flatterhaften Wesen ständig auf Trab und schaffte es immer wieder, dass dieser das Kreuz schlug und ein Stoßgebet gegen den Himmel sandte.
»Oddio! Salva questa povera anima!«
»Der da oben kann dir nicht helfen, Signor Carbonara«, wies ihn Lars in solchen Moment schalkhaft zurecht. »Du musst das Problem schon selber in die Hand nehmen.«
»Welch frevelhafte Worte, mio figlio«, flüsterte Sergio darauf ehrfürchtig, zog den Kopf ein und schlug erneut das Kreuz. »Auf Gott können wir uns immer verlassen. Du solltest ihm etwas mehr Respekt entgegenbringen!«
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