Charlotte hatte sich auch das zweite Konzert im Casino angehört und dazu ihre ganze Familie, Freunde und Verwandtschaft mitgebracht, die sich nach der Aufführung allesamt hinter der Bühne einfanden, um Victor ihre Anerkennung auszusprechen. Er war gemeinsam mit seiner Freundin im Mittelpunkt einer großen Menschentraube gestanden, hatte seine Eltern, die ebenfalls noch einmal im Casino erschienen waren, mit Charlottes Familie bekannt gemacht, und fühlte sich ihren Leuten bereits irgendwie zugehörig.
Professor Glauser hatte sich kurz nach seinem Glückwunsch und Victors damit verbundenem Gefühlausbruch verabschiedet, und so gehörte der Rest des Abends ganz ihnen beiden und ihren Familien. Man begab sich ins Restaurant Harmonie, wo man viel trank und wo belegte Brötchen gereicht wurden. Es war eine laute und fröhliche Gesellschaft, und es wurde viel gescherzt und gelacht. Charlottes Vater, der ein eigenes Schreinergeschäft besaß, war ein bodenständiger Mann, dessen Backen ständig leicht gerötet waren – jetzt, wo er schon ziemlich Alkohol getrunken hatte, leuchteten sie richtiggehend –, und er ließ es sich nicht nehmen, einen Trinkspruch auf den jungen Dirigenten auszusprechen.
»Ich bin ein einfacher Mann und verstehe nicht viel von Musik«, ließ er die Zuhörer wissen. »Aber was ich heute gehört habe, hat mich zutiefst berührt. Und neben mir hat meine Tochter gesessen und ist vor Stolz beinahe geplatzt. Der Abend hat mir eine unsagbare Freude bereitet, wie ich sie noch selten erlebt habe. Ein Hoch auf den jungen Maestro!« Und alle hoben ihre Gläser und prosteten Victor zu.
Werner Felber, der Direktor der Musikgesellschaft, der mit Freunden an einem Nebentisch saß, kam ebenfalls kurz zu den Feiernden hinüber, beglückwünschte Victor zu seinen Auftritten und die Eltern zu ihrem talentierten Sohn und prophezeite eine große Dirigentenkarriere.
Charlottes Großmutter hatte einen Narren an Victor gefressen und bat ihn mit einem zahnlosen Lächeln, sie doch innerhalb nützlicher Frist noch zur Urgroßmutter zu machen.
Der junge Steinmann saß inmitten dieser fröhlichen Runde und wusste nicht, was er von dem ganzen Trubel halten sollte. Einerseits freuten ihn die vielen Gratulationen, und er fühlte sich unerwartet wohl im Schoss der Familie, andererseits wurmte es ihn sehr, dass er von der Wilden Lena nichts gehört hatte. Er wusste nicht, ob sie eines der Konzerte besucht hatte oder nicht, hinter der Bühne hatte sie sich auf jeden Fall nicht blicken lassen, und zwischen den beiden Auftritten hatte sie sich auch nicht gemeldet.
Es war ihm klar, dass mit der Zusammenkunft im Restaurant Harmonie seine private Zukunft in geregelte Bahnen gelenkt wurde – die Heirat mit Charlotte und eigene Kinder schienen bloß noch eine Frage der Zeit zu sein –, und irgendwie fand er diese Aussicht wenig prickelnd, wenn nicht sogar höchst beunruhigend.
Er dachte an Helene Webers Worte, die sie auf dem Weg in den Kornhauskeller an ihn gerichtet hatte, und spürte tief in sich drin einen unbändigen Drang nach Freiheit, nach Lust und Leidenschaft und nach einer unbändigen Begierde auf körperliche Nähe.
Diese Gedanken schwirrten ihm immer noch im Kopf herum, als er tags darauf mit Charlotte im Volkshaus saß und abwesend in seinem Essen herumstocherte. Sie bestritt die ganze Unterhaltung beinahe alleine, erzählte ihm von den Reaktionen ihrer Freundinnen am Seminar, wie viel Bewunderung, aber auch Neid sie gespürt habe und wie gespannt sie auf die Rezensionen in den Zeitungen sei, die gewiss überschwänglich sein würden.
Victor hörte ihr halbherzig zu, kommentierte kurz, wenn er sich dazu genötigt fühlte, und hing seinen Gedanken nach. Er war verwirrt, konnte seine lustvollen Fantasien nicht richtig einordnen und wusste, dass er eine Entscheidung treffen musste, um herauszufinden, ob Charlotte ihm das geben konnte, was er so sehr brauchte und auf das er so lange gewartet hatte.
Ihre Eltern waren heute Abend gemeinsam mit ihrem älteren Bruder bei Bekannten eingeladen, und so hatte er sich vorgestellt, dass er Charlotte in ihrem Elternhaus im Breitenrain verführen würde. Er hatte dafür einen Schaumwein und Kerzen eingekauft, und als seine Freundin nach dem Essen noch einen Spaziergang durch die Altstadt bis zum Bärengraben vorschlug, entgegnete er, dass er mehr Lust auf einen gemütlichen Abend bei ihr zu Hause habe, da sie ja gewissermaßen sturmfreie Bude hätten.
Charlotte, die vom Wein schon ein bisschen beschwipst war, ergriff seine Hand und meinte, das sei eine hervorragende Idee, sie sollten doch möglichst keine Zeit verlieren und anstatt zu laufen das Tram nehmen, damit sie soviel Zeit wie möglich alleine verbringen könnten, bis die Eltern zurückkehren würden.
Victor war überrascht über diese offensive Wendung, er hatte damit gerechnet, dass Charlotte auf seinen Vorschlag eher zurückhaltend reagieren würde. Als sie sich im Tram an ihn kuschelte, sah er sich bereits am Ziel seiner Träume. Die Aussicht, endlich mit ihr schlafen zu können, steigerte seine Vorfreude ins Unermessliche. Er war jetzt schon begierig darauf, der Wilden Lena von der bevorstehenden Liebesnacht zu berichten, gewiss würde er noch das eine oder andere Detail ausschmücken, sodass auch sie einmal große Augen kriegen und sprachlos sein würde.
Als sie im Haus am Breitenrain ankamen, kam Victor gar nicht dazu, Kerzen und Wein auszupacken, denn Charlotte schlang ihre Arme um seinen Hals und küsste ihn leidenschaftlich.
»Halt mich ganz fest, mein Held«, flüsterte sie ihm ins Ohr. »Ich brauche jetzt große und starke Arme, die mich beschützen und mich nie mehr loslassen.« Und dann verdrehte sie die Augen und kicherte. »Ich glaube, ich bin so richtig besoffen.«
Charlotte hätte in nüchternem Zustand niemals zu solchen Worten tendiert, und Victor war überzeugt, dass er nun endlich zu seiner lang herbeigesehnten Liebesnacht kommen würde. Er warf seinen romantisch angehauchten Plan über Bord, nahm sie in seine Arme und trug sie die Treppe hoch in den ersten Stock, wo sich ihr Zimmer befand.
Dort legte er sie sanft auf ihr Bett und zog Schuhe und Kittel aus, bevor er sich zu ihr legte und weiterhin gierig seinen Mund auf ihre Lippen presste. Durch den Stoff ihres Oberteils knetete er ihre kleinen Brüste, womit er ihr ein erregtes und leidenschaftliches Stöhnen entlocken konnte. Er hätte sich ihrerseits ein bisschen mehr Initiative gewünscht, wie er es sich in seinen Fantasien ausgemalt hatte, die allerdings sehr stark von den Vorstellungen geprägt waren, Sex mit der Wilden Lena zu haben.
So fand er nun, dass er endlich zur Sache kommen wollte, schob seine Hand unter ihren Rock und streichelte sanft ihre Oberschenkel, wobei er immer mehr hochrutschte.
Ihre Reaktion kam für ihn völlig unerwartet. Sie schien auf einen Schlag wieder stocknüchtern zu sein, presste die Beine zusammen und schob ihn so energisch von sich weg, dass er vom Bett flog und sich auf dem Fußboden wieder fand.
Er hatte sich den Kopf gestoßen, rieb sich mit der Hand seinen Schädel und kam wieder auf die Knie. Als er sich erheben wollte und nach oben blickte, sah er Charlottes wutverzerrtes Gesicht über ihm und realisierte zu spät, dass ihre Hand auf ihn zugeflogen kam. Die Wucht der Ohrfeige warf ihn erneut zu Boden, und einen Moment lang sah er nur Sterne, bis Charlottes Stimme in sein Bewusstsein drang.
» Das wolltest du also die ganze Zeit? Nur um das ist es dir gegangen? Hast du mich überhaupt geliebt oder hast du von Beginn weg nur auf das hingezielt. Hättest du vielleicht auch mich einmal fragen und mit mir reden können, ob ich das überhaupt will?« Sie spie das Wort das mit einer unbeschreiblichen Verachtung aus.
Victor hielt sich immer noch den Kopf. »Es tut mir leid, ich dachte ...«
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