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Es war mittlerweile zwei Jahre her seit dem Fiasko mit Emma Forster und dem Konservatoriums-Orchester, und Victor sollte endlich erneut eine Chance erhalten, seine Fähigkeiten als Dirigent unter Beweis zu stellen.
Luc Balmer war erkrankt, es konnte so kurzfristig kein Ersatz gefunden werden, und es befand die Gefahr, dass die beiden anstehenden Konzerte des Berner Stadtorchesters abgesagt werden müssten. Werner Felber, der Direktor der Bernischen Musikgesellschaft nahm Kontakt zu Professor Glauser auf und informierte ihn, dass Balmer Victor Steinmann vorgeschlagen habe, wenn bis zur Generalprobe kein Ersatz gefunden werden könnte.
»Wie meinst du das eigentlich?«, entsetzte sich Glauser. »Ich kann doch nicht einen meiner Studenten vor ein Profiorchester stellen. Das geht doch hundertprozentig schief.«
»Sieh es doch von der anderen Seite.« meinte Felber. »Das ist eine unglaubliche Chance für einen jungen, aufstrebenden Kapellmeister, wie dieser Steinmann das sein soll. Eine bessere Möglichkeit gibt es für ihn doch nicht, um sich der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das Orchester beherrscht seinen Part, der Konzertmeister hat geprobt, es braucht ein paar Absprachen punkto Tempo und Intonation, und dann kann der junge Geck loslegen.«
Paul Glauser war hin- und hergerissen. Hatte der junge Musiker seine Lektion aus dem letzten Konzert gelernt? Mit den Profimusikern konnte er nicht so umspringen, wie er es mit dem Ad-hoc-Orchester getan hatte; die Katastrophe wäre vorprogrammiert.
Aber auf der anderen Seite musste dieser Schritt einmal gemacht werden. Der junge Victor hatte sich die Hörner bereits abgestoßen, jetzt musste er beweisen, dass er seine Lehren daraus gezogen hatte.
»Gut, aber ihr sucht noch weiter«, meinte Glauser zögernd. Im Geheimen hoffte er aber, dass man keinen Ersatz fand, sodass Victor seine Chance kriegen würde. Er informierte seinen Studenten über die Anfrage des Stadtorchesters, und dieser war natürlich hellauf begeistert
Auf dem Programm standen ursprünglich ein modernes Werk von Bernd Alois Zimmermann und die Siebte Symphonie von Anton Bruckner. Zimmermann ließ man fallen, sodass sich das Orchester mit dem Ersatzdirigenten voll auf Bruckner konzentrieren konnte.
Victor kannte das Werk selbstverständlich in- und auswendig, und verbrachte den Rest des Tages damit, alleine in seinem Studienzimmer im elterlichen Haus in Köniz eingeschlossen, die Partitur noch einmal durchzugehen.
Die erste Person, der er von seinem möglichen Auftritt erzählte, war Charlotte Arnold. Kurz nachdem er von Paul Glauser über die aktuelle Situation in Kenntnis gesetzt worden war, telefonierte er mit seiner Freundin.
»Ach, Victor«, meinte sie, »das wäre doch himmlisch. Wie lange hast du auf diese Chance warten müssen. Ich glaube, das Schicksal meint es gut mit uns Zwei.«
»Erinnerst du dich«, rief ihr der junge Steinmann in Erinnerung, »wie ich dir letztes Wochenende noch gesagt habe, dass ich so ein Gefühl hätte, wie wenn sehr bald etwas Wichtiges geschehen würde. Could be – who knows...«, trällerte er Tonys Song Something’s coming aus der West Side Story.
Er hatte mit großer Begeisterung seine Mutter über den möglichen Auftritt informiert, die ihrerseits sofort in Brunos Praxis telefonierte, um ihren Mann zu bitten, sich umgehend um Eintrittskarten zu kümmern.
»Wie kannst du mich bloß bei meiner Arbeit stören!«, tadelte Bruno seine Frau. »Ich habe es gerade mit einem sehr komplizierten Armbruch zu tun!«
Als er dann aber vom möglichen Auftritt seines Sohnes im Casino vernahm, wurde er milder gestimmt; Gertrud konnte fast ein wenig Begeisterung und Euphorie durch den Telefonhörer wahrnehmen. Er versprach, die Karten zu besorgen – sofern Victor wirklich zu seinem großen Auftritt kommen sollte.
Zwei Stunden vor der Generalprobe vermeldete Werner Felber, dass man keinen Ersatz gefunden hatte und dass man Victor für die Generalprobe im Casino erwarten würde.
»Seien Sie unbesorgt«, versicherte der Konzertmeister dem jungen Steinmann. »Bruckner ist kein Problem. Folgen Sie uns nur und vertrauen Sie uns.«
Victor nahm sich darauf erst recht vor, dem Werk seine ganz persönliche Note aufzudrücken.
»Werter Maestro«, sagte er zum Konzertmeister, »es ist mir ein großes Vergnügen, mit Ihnen und dem Orchester zusammenzuarbeiten. Ich bin überzeugt, dass wir einen wunderbaren Bruckner machen werden, und verspreche, dass ich alles in meiner Macht stehende tun werde, um den ehrenwerten Luc Balmer so gut wie möglich zu vertreten.«
Der Konzertmeister war zufrieden, die Generalprobe verlief störungsfrei und harmonisch, und man war zuversichtlich, dass der Konzertabend problemlos über die Bühne gehen würde.
Beim Konzert stand der junge Maestro vorne auf dem Podest und schaffte es, den Musikern seine Deutung der Siebten Bruckner aufzudrängen, so, als hätte man sich durch hunderte von Proben gemeinsam durchgeschlagen. Jeder Einsatz wurde gegeben, jede Stimme war transparent, jedes Instrument bekam genug Raum, um sich zu entfalten. Das langsame Tempo gab jedem Musiker das wohlige Gefühl, sich nicht unter Druck zu fühlen und sich selbst in das Gesamte einbringen zu können.
Die zu Beginn verstörten Blicke, die der Konzertmeister von seinen Orchesterkollegen erhielt, da Victor ein deutlich breiteres Tempo anschlug als in der Generalprobe, waren komplett verschwunden, und man konnte den Mienen der Musiker deutlich erkennen, dass sie sich wohl fühlten, dass sie von Herzen spielten, dass sie für den jungen Menschen spielten, der da vorne auf dem Podest aus tiefster Seele die Musik strömen ließ.
Nach dem ersten Satz ging ein Raunen durchs Publikum, Victor blickte zum Konzertmeister, der lächelte und ihm aufmunternd zunickte. Da wusste er, dass dies der magische Moment sein musste, er wusste, dass er es geschafft hatte und dass er im Begriff war, gemeinsam mit dem Orchester und dem Publikum eine musikalische Sternstunde zu erleben.
Der langsame zweite Satz, das Adagio, wurde zu einer eindrücklichen Demonstration für hohe Orchesterkultur. Die Musik floss dahin, Victor hielt mit einer eindrücklichen Gelassenheit alle Fäden in seiner Hand. Seine Bewegungen waren ruhig und eindringlich zugleich, die Gesten sparsam, der Ausdruck ernst und feierlich. Er fixierte seine Musikerschar mit eindringlichem Blick. Wohl so manchem Zuhörer musste es eiskalt über den Rücken gelaufen sein, als die Wagnertuben den Trauergesang für das Dahinscheiden des Meisters aus Bayreuth zelebrierten – Mademoiselle Szábo natürlich ausgenommen.
Nach dem letzten Akkord des Finales blieb Victor unbeweglich stehen, die Augen geschlossen, der Stock blieb erhoben in der Luft. Kein Musiker wagte es, sein Instrument sinken zu lassen, alle blieben unbeweglich auf ihren Sitzen, angespannt, wie wenn sie auf den nächsten Einsatz warten würden. Keiner der Zuhörer wagte auch nur zu atmen, die Anspannung war spürbar, der Orkan in Form eines gewaltigen Applauses lag in der Luft, aber der Maestro verstand es, ihn kunstvoll hinauszuzögern, die Stille nach der Symphonie zu genießen, als wenn in der Partitur am Ende noch mehrere Takte Pause angegeben wären. Dann endlich öffnete er seine Augen, blickte seine Musiker an, nickte ihnen mit ernster Miene zu und ließ die Arme fallen.
Was dann folgte, lässt sich in Worten nicht beschreiben. Der Applaus setzte zunächst zögernd ein, fast fragend, wuchs dann aber zu einem Hurrikan an, wie man ihn im Casino selten gehört hatte.
Victor blieb scheinbar unberührt von diesen Ovationen. Er stand immer noch unbeweglich da, ließ seine Blicke über die Musiker gleiten, hatte mit jedem kurz Blickkontakt und nickte anerkennend. Er schüttelte mit beiden Händen die Hand des Konzertmeisters und drehte sich dann gegen das Publikum. Der Applaus schwoll noch einmal zu doppelter Lautstärke an, die Bravorufe prasselten von der Galerie auf den jungen Maestro nieder, der nicht zurück aufs Podest stieg, sondern die Ovationen inmitten seiner Musiker entgegen nahm, dem Publikum kurz zunickte und sich dann von der Orchesterbühne entfernte.
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