»Wo guckst du denn hin, Mozart?«, holte sie ihn mit einem lauernden Unterton lachend in die Gegenwart zurück und reichte ihm seine Partitur. »So ein düsteres Requiem ist halt schon was Todernstes. Dunkle Kirchen, ernste Gesichter und niedergeschlagene Stimmung. Da braucht man doch eine Prise Erotik zum Ausgleich, meinst du nicht auch?«
Victor errötete und wusste nicht, wo er hinschauen sollte.
»Du bist aber leicht in Verlegenheit zu bringen, Mozart«, stellte Helene fest und erhob sich wieder. »Ich mag interessante und redselige Gesellschaft, die mich unterhält. Vielleicht habe ich dich etwas überschätzt, als ich mir gedacht habe, du könntest mir das bieten.«
Victor fühlte sich in höchstem Masse provoziert, stand ebenfalls auf und stellte sich in voller Größe vor Helene. »Lass es uns doch ausprobieren.«
Sie schmunzelte. »Ich mag große Männer, aber Körperlänge alleine reicht nicht aus, um mich zu beeindrucken, Mozart, obwohl mir schon sehr gefällt, was ich sehe. Aber du musst wohl auch noch etwas geistige Größe nachreichen und dabei gehörig aufblühen, wenn du mir Eindruck machen und einen verbalen Schlagabtausch liefern willst. Gehen wir ins Pyri?«
Die Kundschaft im Café des Pyrénées am Kornhausplatz war gewöhnlich kunterbunt gemischt, von Arbeitern bis zu Studenten und Intellektuellen fand man alles in diesem Berner Lokal, das zwischen den dunklen Holzmöbeln einen ganz eigenen Charakter versprühte, der gut zur Bundesstadt passte: gemütlich und einfach.
Victor wäre es im Traum nicht in den Sinn gekommen, mit Charlotte Arnold, seinem Engelchen, eine solche Gaststätte zu betreten und wäre am liebsten wieder umgekehrt, als ihm der Tabakrauch, der sich schwer im Raum festgesetzt hatte, entgegenschlug.
Helene zog ihn mit sich zu einem freien Tisch, und Victor bemerkte die Blicke, die sie von den Männern auf sich zog und deren sie sich auch bewusst war. Sie wackelte auf ihren schwindelerregend hohen Absätzen aufreizend mit ihrem Hinterteil, das in einer engen Hose steckte und schon aus diesem Grund für Aufsehen sorgte – im behäbigen und langsamen Bern zogen sich die Frauen zu dieser Zeit noch ein Kleid oder einen Rock an.
Sie bestellte für beide ein Bier, ein Getränk, das Victor zutiefst verabscheute. Doch er traute sich nicht, ihr zu widersprechen und sammelte sich, um die verbalen Dolchstöße von seiner Begleitung mehr als nur parieren zu können.
Sie erzählte von ihrer Arbeit mit Glausers Novelle, nahm das Büchlein hervor, zitierte ihre Lieblingsstellen und erzählte, welchen Bezug sie dazu hatte.
»Er ist so süß, der Professor«, schwärmte sie, »und so hilfsbereit. Aber sein schrecklicher Bart – da müsste einmal entschlossen zum Rasiermesser gegriffen werden. Ich glaube sogar, er mag mich ein bisschen.« Sie blickte verträumt zur Decke, und als sie wieder Augenkontakt mit Victor aufnahm, ertappte sie ihn, wie er erneut in ihren Ausschnitt starrte. Mit einem frechen Grinsen beugte sie sich über den Tisch.
»Na, Mozart, ist die Aussicht so nicht viel besser? Möchtest du sie gerne mal anfassen?«
Victor errötete wieder und griff nach seinem Bier, das er noch nicht zur Hälfte ausgetrunken hatte, während Helenes Glas bereits leer war. Sie musterte ihn kritisch.
»Wenn du die Frauen so magst wie das Bier, dann gute Nacht, Herr Hofkapellmeister.« Sie drehte sich gegen die Theke, rief die Bedienung bei ihrem Namen, was darauf hindeutete, dass sie öfters im Pyri verkehren musste, und bestellte ein weiteres Getränk.
Inzwischen hatte sich Victor wieder etwas gefasst, erzählte ihr stolz von Charlotte und pries deren Anmut und ihre Intelligenz. Er schwärmte von ihrer sozialen Ader und erzählte von ihren gemeinsamen Lieblingsplätzen. Helene zündete sich eine Zigarette an und hörte ihrem Gegenüber mit gelangweilter Miene zu. Als Victor seine Lobpreisung beendet hatte, nahm sie einen großen Schluck vom neuen Bier und wischte sich mit dem Handrücken über den Mund. Wie beiläufig warf sie ein: »Und wie ist sie so im Bett?«
Victor schnappte nach Luft und hielt sich mit beiden Händen an seinem Bierglas fest. Die Frau warf ihn total aus der Bahn, und mit einer Mischung aus Abscheu und Faszination stellte er sich vor, wie die Wilde Lena unter den Tisch kriechen und seine Hose öffnen würde. Als könnte Helene seine Gedanken lesen, fuhr sie sich mit der Zunge lasziv über die Lippen. Dann lachte sie laut.
»Mein Gott, Mozart! Sag bloß, du bist noch Jungfrau! Ich glaube es nicht. Die keusche Lotte, die ihrem Werther den Kopf verdreht! Du solltest dich viel mehr entspannen, du brauchst Abwechslung von deinen hochstehenden Studien – Liebe und Leidenschaft: Darum geht es doch in der Musik! Also lass sie auch zu! Du musst doch wissen, von was du sprichst, wenn du Feuer und Lust aus deinem Orchester herauszaubern willst.« Sie griff nach seiner Hand. »Ich könnte dir das schon zeigen, wenn du das möchtest.«
Sofort zog er seine Hand zurück und versteckte sie unter dem Tisch. »Ich glaube nicht, dass ich das möchte. Und schon gar nicht mit dir.« In Wahrheit spürte er ein so starkes Lodern in seinem Unterleib, dass er am liebsten aufgestanden wäre, sie von hinten an sich gezogen und seinen erigierten Penis an ihren Pobacken gerieben hätte, währenddem seine Hände damit beschäftigt gewesen wären, ihre vollen Brüste zu kneten.
Helene zog einen Schmollmund und spielte mit ihren roten Haaren. »Da wäre ich mir nicht so sicher. Aber ich kriege dich schon noch, Mozart. Wenn dein Lottchen dich zum x-ten Mal abblitzen lässt, wirst du plötzlich bei mir auf der Matte stehen.«
Als sie seinen offenen Mund sah und seine Sprachlosigkeit feststellte, lachte sie erneut und klopfte sich auf den Oberschenkel. »Mein Gott, Mozart. Sei doch mal ein bisschen locker. Das war ein Sche – herz! Lustig und so, verstehst du? Oder kennt man das in der Welt der ernsten Musik etwa nicht?« Sie merkte, dass sie ihn stark in Verlegenheit gebracht und überfordert hatte. Es war ihm anzusehen, dass er sich nicht mehr wohl in ihrer Gesellschaft fühlte und so versuchte sie wieder, auf weniger verfänglichere Themen umzuschwenken, denn der Mann, der ihr gegenüber saß, übte eine enorme Faszination auf sie aus, und es wurde ihr klar, dass sie sich ein wenig zurücknehmen musste, wenn sie seine Aufmerksamkeit nicht verlieren wollte.
So wechselte sie das Thema ihres Gesprächs geschickt in Richtung Musik und schwärmte von Jazz und Blues und John Lee Hooker, den sie vergötterte. Victor erzählte von einer Aufführung von Mozarts Jupitersymphonie, die er letzte Woche im Casino gehört hatte und schimpfte über die üppige Interpretation, die er auf Kosten der klassischen Schlankheit vernommen und sich darüber sehr geärgert hatte. Dann stritten sie über die Neue Wiener Schule und über die daraus hervorgegangene Zwölftonmusik, die Helene faszinierend fand und Victor als mathematische Spielereien abtat.
Damit befand sich der junge Steinmann wieder auf sicherem Terrain und übernahm die Führung des Gesprächs. Er fragte sie nach ihren literarischen Vorlieben und erzählte, wie er Dostojewskis Schuld und Sühne in einem Zug durchgelesen hatte und Raskolnikow, die Hauptfigur des Romans, am liebsten immer wieder geohrfeigt hätte.
Sie hingegen verehrte Max Frisch und erklärte Victor, weshalb der Stiller dem Homo faber , zwei Romane des Zürcher Schriftstellers, vorzuziehen wäre. Dieser rümpfte die Nase und monierte, Frischs Sprache sei ihm zu nüchtern und rational. Er lobte die großen, wortgewaltigen Epen von Tolstoi oder Thomas Mann, deren Qualitäten Helene überhaupt nicht in Frage stellen wollte.
»Aber alleine schon die Eröffnung!«, kam sie auf Frischs Werk zurück und zitierte mit schwärmerischem Tonfall den ersten Satz des Romans. » Ich bin nicht Stiller! So einfach, und trotzdem ist die ganze Problematik dieses Buches in einem einzigen Satz dargelegt, Mozart. Das ist hohe Kunst!«
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