Zuckerfrank stand daneben, unterhielt sich mit einem weiteren Konzertbesucher über die letzte Aufführung von Bachs h-Moll-Messe im Berner Münster und war froh, auf diese Art und Weise keinen Kommentar zu Victors Auftritt abgeben zu müssen.
Paul Glauser zitierte seinen Schützling am nächsten Tag zu sich und fragte ihn, wie er denn das Konzert erlebt habe. Der junge Victor lamentierte über die Ignoranz des Publikums, über die unmusikalische Pianistin, über die Unfähigkeit des Orchesters, eine strenge Führung zu akzeptieren und so weiter.
Der Professor schaute Victor lange an, kaute am Bügel seiner Brille, wie er das immer tat, wenn er angestrengt nachdachte, schüttelte den Kopf, schwieg und blickte zum Fenster hinaus auf die Kramgasse. Mit traurigem Blick deutete er Victor den Weg zur Türe. Er hatte so gut wie nichts gesagt, seinem Schüler nur ein paar Fragen gestellt und diesen während seiner Klage nicht unterbrochen. Seit Victor sein Lamento beendet hatte, hatte er kein Wort mehr verloren, die Kopfbewegung Richtung Türe war die erste Botschaft an seinen Schützling.
Victor war komplett verwirrt, hatte eine Stellungnahme seines Lehrers erwartet und schüttelte ungläubig und fragend den Kopf. Professor Glauser starrte auf die Kramgasse, nahm Victor überhaupt nicht mehr zur Kenntnis und wartete, bis er endlich alleine war.
Verstört verließ Victor das Zimmer seines Lehrers und wusste nicht, was er von diesem Besuch halten sollte. Er war sich nicht bewusst, etwas falsch gemacht zu haben und war überzeugt, völlig im Recht zu sein.
»Wie haben Sie denn mein Konzert gefunden?«, fragte er Luc Balmer am nächsten Tag, als sich die beiden zu einer Besprechung trafen.
»Victor«, antwortete der Musikdirektor und machte aus seinem Ärger keinen Hehl, »zuerst einmal ist es nicht Ihr Konzert. Das könnten Sie sagen, wenn Sie ein Klavierrezital gegeben hätten. Wenn Sie auf dieser egozentrischen Schiene weiterfahren möchten, dann rate ich Ihnen doch dringendst, sich wieder vollauf auf Ihr Klavierstudium zu konzentrieren.«
»Aber«, wandte Victor ein, »ich habe doch alles so gemacht, wie wir es im Voraus besprochen haben.« Sie hatten gemeinsam das Konzert vorbereitet, die Partitur analysiert und die schwierigen Passagen in Bezug auf die Schlagtechnik besprochen.
»Nun ja«, meinte Balmer nachdenklich, und sein Ärger war bereits wieder etwas verflogen. »Da haben Sie wohl Recht. Wir haben uns nur mit den Anforderungen beschäftigt, die es braucht, um sich das Werk zu eigen zu machen. Aber ich glaube, wir haben vergessen, die andere Seite mit einzubeziehen. Ich denke, wir werden uns in den nächsten Besprechungen sehr stark auf die Vermittlungsarbeit konzentrieren müssen. Achten Sie sich doch in den nächsten Proben ausschließlich darauf, wie ich mit dem Orchester arbeite.«
Victor arbeitete weiterhin hart, das Klavier- und Kompositionsstudium ging ihm leicht von der Hand. In Vortragsübungen durfte er am Flügel seine Fähigkeiten unter Beweis stellen, was ihm stets gute Kritiken einbrachte. Vor allem seine Transkriptionen großer Orchesterwerke wurden viel beachtet und ernteten höchstes Lob. Seine Übertragung von Richard Wagners Tannhäuser-Ouvertüre sorgte bei Ferdinand Tanner, dem Feuilletonisten der Zeitung Der Bund für wahre Begeisterungsstürme – bei Mademoiselle Szábo hingegen für blankes Entsetzen.
»Mein Junge, wie konntest du nur!«, schalt sie ihn nach der Darbietung. Eigentlich hätte sie aufstehen und den Saal verlassen wollen, als die ersten Akkorde der Ouvertüre erklangen, doch ihre Höflichkeit und ihr Respekt vor der Kultur verboten es ihr, den Vortrag zu stören, und so wurde auch sie, zunächst widerwillig, dann aber staunend, von Victors hypnotischem Spiel verzaubert – Wagner hin oder her. »Jetzt bist du ihm also doch in die Falle gegangen, hat dich der alte Nazi mit seinen Klängen verführt!« Von diesem Abend an wollte sie immer genau wissen, welche Werke auf dem Programm standen, bevor sie Victor die Zusage für ihr Kommen gab.
Bruno und Gertrud Steinmann waren bei den Vorspielen auch anwesend, sofern es die Zeit des Arztes erlaubte, und Victors Mutter hatte, auch wenn sie nicht viel von der Musik verstand, mehr als einmal Tränen in den Augen, wenn sie ihrem Sohn am Klavier lauschte und dabei feststellte, wie er mit seinem Spiel die ganze Zuhörerschaft in seinen Bann ziehen konnte. Bruno blieb da jeweils sachlicher: »War gar nicht schlecht. Aber wirst du einmal davon leben können? Nun ja, du hast ja immer noch die Möglichkeit, als Klavierlehrer dein Geld zu verdienen.«
Victor ignorierte die nüchternen Kommentare seines Vaters und freute sich mehr darüber, dass er seine Mutter hatte berühren können, wenn sie mit feuchten Augen schweigend neben ihrem Mann stand.
Vielleicht hatten sich solche Augenblicke in seinem Herzen verankert und waren mitunter der Grund dafür, dass er seine Mutter in Interviews als seine große Förderin bezeichnete.
Natürlich freuten ihn die lobenden Kommentare über sein Klavierspiel, doch sein erklärtes Ziel blieb natürlich die Orchesterleitung. Er konzentrierte sich mehr auf die Gespräche mit Luc Balmer und versuchte, sich auf mentale Art und Weise die Arbeit mit dem Orchester vorzustellen, denn nie mehr hatte man den jungen Steinmann das Konservatoriums-Orchester dirigieren lassen, obwohl er es aufgrund seines Könnens durchaus verdient gehabt hätte. Immer wieder gab man einem anderen Studenten, der sich einmal an einem Orchester messen wollte, den Vorzug, und immer saß Victor Steinmann im Publikum und lauschte mit unbeweglicher Miene den Leistungen seiner Kollegen. Die Konzerte waren mäßig, und Professor Glauser wusste das. Trotzdem konnte er sich noch nicht aufraffen, dem jungen Musiker eine weitere Chance zu geben.
Diese sollte sich Victor dann zwei Jahre später bieten und zwar von einem Tag auf den anderen.
*
Neben der Musik gab es nur ganz wenige Dinge, die Victor Steinmann wirklich interessierten und mit denen er sich auseinandersetzte.
Seine Aufmerksamkeit dem anderen Geschlecht gegenüber war in den vergangenen Jahren enorm gestiegen, nachdem Mademoiselle Szábo und seine Mutter lange seine einzigen weiblichen Bezugspersonen gewesen waren. Er hatte eine außerordentlich charmante Seite an sich entdeckt, die bei den Frauen sehr gut ankam und die er auf seine berechnende Art gezielt einzusetzen wusste. Zu mehr als küssen und ein wenig fummeln hatte es allerdings noch nicht gereicht, und es belastete ihn gewaltig, dass er mit seinen mittlerweile stattlichen zwanzig Jahren noch nicht mit einer Frau geschlafen hatte.
Er traf sich seit ein paar Monaten mit der Seminaristin Charlotte Arnold, die er am Konservatorium kennengelernt hatte, wo sie Flötenunterricht nahm. Sie liebte die Musik, ging aber ganz in ihrer Berufung zur Lehrerin auf und freute sich darauf, ihre Ausbildung zu beenden und Kindern die ersten Schritte in den Schulalltag zu erleichtern.
Victor war heillos verschossen in die junge Frau und nannte sie »mein Engelchen«, was bei ihrem blonden Lockenkopf nicht ganz aus der Luft gegriffen war. Leider trug sie ihre Haare immer entweder hochgesteckt oder zu einem Pferdeschwanz gebunden – Victor hätte sie gerne mit offenem Haar gesehen, das er durch seine Finger hätte gleiten lassen können.
Er versuchte, sie so häufig wie nur möglich zu treffen, holte sie in ihrem Elternhaus im Breitenrain ab und führte sie Arm in Arm über die Kornhausbrücke in die Altstadt. Wenn sie händchenhaltend durch die Lauben Berns spazierten, platzte er beinahe vor Stolz, eine so gut aussehende und intelligente Frau an seiner Seite zu wissen.
Charlotte mochte Victor ebenfalls und genoss die Zeit, die sie gemeinsam verbrachten. Vor dem Berner Münster, wo er ihr das Portal mit der Darstellung des Jüngsten Gerichts erklärt hatte, küssten sie sich zum ersten Mal, und Victor war überzeugt davon, dass er die Frau gefunden hatte, die er liebte und an die er seine Jungfräulichkeit verlieren würde.
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